Von Susanna Margaryan
Als Professor Franz Hamburger 2013 das Verdienstkreuz 1. Klasse bekommen hat, war es schwer zu unterscheiden, welche Arbeit die Zuständigen vorrangig geschätzt haben: Sozialpädagogische Aktivitäten oder praktische und wissenschaftliche Arbeit mit Migranten und Flüchtlingen.
Auf jeden Fall ist er ein Wissenschaftler mit 40-jähriger Erfahrung, der die Flüchtlinge, Gastarbeiter und Migranten nicht nur im Fernsehen, auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln getroffen hat. Er betrachtet die Thematik einerseits aus wissenschaftlicher Sicht, scheut aber auch nicht den direkten Kontakt mit den Migranten.
Wir haben Herrn Hamburger am 02.09.2019 beim Sommerfest der Ökumenischen Flüchtlingshilfe Oberstadt e.V. (ÖFO) getroffen. Bei diesem Fest haben mehr als 200 Menschen aus Deutschland und aus der ganzen Welt gemeinsam den Sommer und ihr ‘‘Zusammensein‘‘ gefeiert. Es war ein friedvolles Fest mit vielen positiven Emotionen. Deswegen haben wir die erste Frage zu dieser harmonischen Atmosphäre gestellt. Herr Hamburger, wir haben heute ein sehr schönes gemeinsames Erlebnisse gehabt. Was denken Sie: sieht so die Integration aus?
Integration ist für mich nicht der wichtigste Begriff. „Integration“ vermittelt immer den Eindruck, dass die Migranten, die dazukommen, sich in diese Gesellschaft, die wir Deutschen geschaffen haben, integrieren sollen. Das ist falsch. Integration heißt auch, dass die Gesellschaft sich ändern muss. Denn sie muss von ihrem Rassismus lassen, denn sie muss etwas von ihrer Vorstellung aufgeben, dass die, die schon immer da waren, größere Rechte haben. Es stimmt auch nicht, dass sie immer da waren. Denn die Gesellschaften sind immer in Veränderung durch Zu- und Abwanderung.
Es ist sehr schwer denen, die da sind, zu vermitteln, dass sie nur schon etwas länger da sind, als die anderen, die jetzt dazukommen. Die Gesellschaft, die da ist, ist immer eine zusammengesetzte Gesellschaft. Dann kommen welche hinzu und das ist ein normaler Vorgang. Er ist immer konfliktreich, weil die, die gerade da sind, glauben, sie hätten größere Rechte. In der Vergangenheit konnte man noch so denken, aber jetzt in einer Demokratie ist das nicht mehr richtig. In einer Demokratie haben alle, die da sind die gleichen Rechte, auch die, die dazukommen. Als Ausländer haben sie nicht die gleichen Rechte, aber danach, wenn sie eine Weile da sind, sollen sie die gleichen Rechte haben. Das ist ein demokratisches Modell von Gesellschaft. Das ist ein Modell, mit dem wir in die Zukunft schauen können.
Wie lange dauert es, diese Form der Gesellschaft aufzubauen?
Diese Gesellschaft ist jetzt schon da. Sie ist keine Gesellschaft der Zukunft. Sie ist eine der Gegenwart und auch eine Gesellschaft der Vergangenheit.
Auch in der Vergangenheit gab es immer eine Gesellschaft, in der Neue hinzukamen. In den mittelalterlichen Städten Deutschlands waren 30 Prozent der Bevölkerung Einheimische und 70 Prozent Zugewanderte.
Die Vorstellung, dass eine Gesellschaft immer schon gleich ist, ist eine Vorstellung, die man pflegt, um Sicherheit zu gewähren – um Gemeinsamkeit festzustellen. Aber es ist immer eine Vorstellung, die eine Funktion hat. Als Wissenschaftler betrachte ich das und sage ja, das ist verständlich. Aber blick auf die Geschichte: Dann siehst du, dass es immer einen Wandel gibt.
Blick auf die Vergangenheit, da war der Wandel, blick auf die Zukunft, auch da wird sich das weiterhin ändern – mehr denn je.
Meinen Sie, dass diese Veränderungen der Gesellschaft keine Gefahr darstellen?
„Gefahr“ ist übertrieben. Es gibt immer Konflikte und diese Konflikte sind in jeder Gesellschaft ohnehin da. Es gibt die Konflikte zwischen denen, die reich sind und denen, die arm sind. Und die gibt es in jeder Gesellschaft. In jeder Gesellschaft gibt es die Vorstellung: Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen allen – den Reichen und den Armen. Diese Vorstellung richtet sich gegen die, die dazukommen. Das ist eine Vorstellung, die kann man erklären, aber sie ist nicht richtig, denn sie unterschlägt die Unterschiedlichkeit der Chancen für Arme und Reiche. Andererseits muss man festhalten: Wenn die Welt stark in Bewegung ist, dann haben wir eine verringerte Sicherheit und Gesellschaften brauchen auch Sicherheit, nicht nur Dynamik. Deswegen hat jede Gesellschaft Grenzen. Diese Grenzen muss man pflegen. Die Grenzen sind wichtig, um zu wissen, wer dazu gehört und wer nicht. Wo hören bestimmte Solidaritäten auf? Die Solidarität mit der ganzen Welt ist eine utopische Vorstellung, die nur in der Religion gepflegt wird. Aber die Religion bestimmt nicht das Alltagsleben. Die Vorstellung, dass die Gesellschaften eine Grenze haben, ist die Grundlage, aber, dass die Grenzen die Anderen abwehren ist nicht richtig. Die Grenzen haben immer schon eine mediatisierende Funktion gehabt. Man kommt und man geht – man hat eine Legitimation zu kommen und auch zu bleiben. Das muss man unterscheiden. Und diese Unterscheidung muss menschenrechtlich, d.h. insbesondere im Hinblick auf verfolgte Menschen in anderen Ländern, begründet werden können. Was heißt mediatisierende?
Die Grenzen sind ein Medium. Gesellschaften, die sich abschotten, die sich abschirmen, benutzen die Grenzen nur negativ. Faktisch sind die Grenzen in der Gegenwart nur ein Instrument um Waren, Kapital und Dienstleistungen die Grenzen überschreiten zu lassen, aber die Menschennach Nützlichkeitskriterien abzuwehren. Das ist nicht richtig. Die Europäische Union hat im Binnenraum die Grenzen relativiert. Die Menschen das Geld, die Dienstleistungen, die Waren können über alle Grenzen gehen – aber es gibt die Grenzen noch. Das ist nicht verkehrt. Doch es kommt darauf an, die Grenzen menschenwürdig und menschenrechtlich zu benutzen. Grenzen sind kein Selbstzweck. Sie sind ein Instrument. Manchmal gibt es Gesellschaften, wie die deutsche beispielsweise, die die Grenzen gegen die anderen benutzt. Nicht pauschal gegen Andere – sondern gegen bestimmte Andere. Wer hier funktioniert, wessen Ausbildung nichts gekostet hat, der ist erwünscht. Und andere, für deren Ausbildung man noch etwas investieren muss, die sind nicht erwünscht. Das ist fragwürdig, weil der Mensch mehr wert ist, als sein Nutzen. Das ist die zentrale Kritik. Sie richtet sich nicht gegen die Grenzen, sondern die Verwendung der Grenzen. Ein Beispiel: Flüchtlinge haben das Recht in andere Länder zu gehen. Das Recht ist universell, das ist das Menschenrecht. Ob sie dort bleiben können, das muss geprüft werden. Das ist normal. Jede Gesellschaft prüft, ob jemand, der dazu kommt, bleiben kann. Aber das muss menschenrechtlich geprüft werden. Man kann nicht sagen: „seine Nase gefällt mir nicht, er muss weggehen“. Das geht nicht. Man muss überlegen, hat er das Recht hier zu bleiben, weil er in seiner Heimat verfolgt wird, oder weil er sich in einer schweren, nicht erträglichen Lage befindet. Von daher ist es wichtig abzuwägen, was Grenzen nützen und was sie schaden. Man muss sich überlegen: Was passiert mit den Grenzen? Im Moment sorgen wir in Deutschland, wir Mitteleuropäer, mit Kriegen, mit Waffenlieferungen, mit Wirtschaftsbeziehungen dafür, dass es Menschen in anderen Ländern schlecht geht. Dann haben wir nicht das Recht sie abzuwehren. Das ist der Kernkonflikt im Moment, dass wir Ursachen für legitime Flucht schaffen aber dann die Flüchtlinge abwehren. Es geht nicht darum, ob die Menschen überhaupt kommen dürfen, oder ob die Menschen überhaupt zu Hause bleiben sollen. Das ist abstrakt. Konkret ist der Konflikt: Wir sorgen durch unsere Politik, durch die Globalisierung zu unserem Nutzen, durch unsere Wirtschaftsbeziehungen dafür, dass es den Menschen anderen Ländern schlecht geht. Dann haben sie auch ein Recht hierher zu kommen. Es gibt kein Menschenrecht auf Leben in einem anderen Land. Aber es ist ein Menschenrecht, vor der Gefahr, vor der Bedrohung fliehen zu dürfen. Und es ist ein Menschenrecht geschützt zu werden. Sommerfest im ÖFO. Was hat dieses Fest gezeigt? Das Sommerfest ist gut, weil niemand etwas versprochen hat, was er nicht halten kann. Niemand von uns sagt, dass alle, die hier sind, in diesem Land bleiben dürfen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sind alle gleichberechtigt, hier in dieser Situation, bei diesem Fest. Was die Zukunft bringt und was die rechtlichen Prüfungen bringen, im Asylrecht z.B., das können wir hier nicht entscheiden. Aber wir und auch die Ministerin setzen uns konsequent dafür ein, dass alle, die das Recht zu bleiben haben, auch dieses Recht realisieren können. Das ist die Qualität des Interkulturellen Bildungs- und Begegnungszentrums (IBBO). Sagen zu können, was man denkt. Wenn uns das, was sie tun, nicht gefällt, dann sagen wir ihnen das. Wenn es uns gefällt, dann sagen wir ihnen das. Es ist elementar, dass wir ehrlich und authentisch sind und, dass wir nicht politisch jonglieren und sagen: „Och, vielleicht mal so, mal so.“ Das wäre nicht richtig. Das IBBO ist eine Institution, die sagt: Menschen, die hierher kommen, sind auf unterschiedliche Weise nicht vertraut mit den Lebensbedingungen hier. Deswegen brauchen sie Unterstützung. Nicht weil sie als Menschen defizitär sind, oder nicht genügend Intelligenz haben oder sonst was, sondern weil sie hierher kommen und nicht hier sozialisiert sind. Deshalb brauchen sie Unterstützung, damit sie hier in Deutschland Mensch sein können. Das ist die Qualität vom IBBO.
Gibt es ähnliche Orte in Deutschland?
Ja. Es gibt viele Menschen die so handeln. Es gibt viele solcher Orte und Institutionen. Auch in der Stadtverwaltung treffe ich auf Menschen, die so handeln. Die Frage ist nicht, in welcher Institution ich mich befinde, sondern welche Qualität mein individuelles Handeln hat. Ich bin nicht für die Welt verantwortlich, aber ich bin für mein Handeln verantwortlich. Auch muss ich sagen können, ob mein Handeln nur gut gemeint oder gut gemacht ist. Die heutige Atmosphäre war unglaublich positiv und warmherzig. Kann aus einer solchen Atmosphäre etwas Neues entstehen? Ich habe diese Atmosphäre schon oft erlebt, das ist mir nicht fremd. Ich bin seit 40 Jahren in der Migrationsarbeit und habe immer wieder erlebt, dass es vergleichbare Situationen gab. Vor 40 Jahren kamen die Gastarbeiter aus Griechenland, Italien der Türkei und verschiedenen anderen Ländern nach Deutschland. Die intuitive Begegnung auf der menschlichen Ebene, die gegenseitige Anerkennung und Akzeptanz – die gibt es immer wieder. Aber sie findet nicht sehr häufig statt. Es ist ein großes Glück, dass hier im IBBO diese Atmosphäre entsteht. In dieser Welt, die nach bestimmten Regeln funktioniert, gelingt es uns, einen Ort zu schaffen, wo wir uns als Menschen begegnen können. Das – und die notwenigste Hilfestellung, Sprachunterricht beispielsweise – das genügt. Mehr braucht es nicht. Nur sollte man nicht meinen, es ginge hier vorrangig um Atmosphäre. Hier wird eben auch hart gearbeitet, Spracherwerb und –training, Bildung, Lernen und sich Verändern – das ist das tägliche Brot. Was ich Ihren Worten entnehme, ist, dass es um eine wechselseitige Beziehung zwischen den Einheimischen und den Neuankömmlingen geht. Für die Einheimischen ist es wichtig, den Neuen in Ihrer Gesellschaft humanistisch und empathisch zu begegnen und einen gemeinsamen Weg zu finden. Aber was ist mit den Ankommenden? Die verwaltungstechnischen Aufgaben werden vom Staat – vom BAMF, Gerichten und anderen Institutionen übernommen. Wie können die Ankommenden sich selbst soweit integrieren, dass sie sich selbst zu Einheimischen werden? Oder findet das nicht statt?
Doch, aber das passiert über lange Zeit. Hier bei uns leben viele Flüchtlinge, die niemand mehr als Flüchtlinge erkennt. Doch das dauert lange.
Wie lange dauert es denn?
Das ist verschieden. Die deutschen Flüchtlinge nach 1945 wurden ebenso abgelehnt wie Flüchtlinge heute. Sie wurden teilweise sogar gehasst, niemand wollte sie. Heute wird gesagt, das sei damals nicht so schwierig gewesen, denn sie seien ja Deutsche gewesen. Doch das ist falsch. Es war genauso schwierig wie heute auch. Die Einheimischen hielten sie für Flüchtlinge, die ihnen etwas wegnehmen. Inzwischen haben diese Flüchtlinge Kinder und Enkel bekommen – und niemand weiß, dass Ihr Nachwuchs einen Migrationshintergrund hat. Sie werden als Einheimische wahrgenommen. Die erste Generation ist mit dem Konflikt konfrontiert, ordnet sich oft klaglos ein. Die zweite Generation lebt ebenfalls im Konflikt, manchmal noch stärker, weil sie besser ist als viele Einheimische und die Benachteiligung nicht mehr akzeptieren kann. Sie bewährt sich im Konflikt. In der dritten Generation spielt das Wissen über die eigene Einwanderung keine große Rolle mehr. In Amerika gibt es ein Sprichwort: „Die erste Generation findet den Tot, die zweite die Not, die dritte Generation das Brot.“ Das mag für eine Siedlungswanderung noch gegolten haben, für einen demokratischen Sozialstaat ist das keine Orientierung mehr. Vielen Dank für das interessante Gespräch.
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