Migration – Integration – Entwicklung
- Bruno Hoffmann
- 11. Jan.
- 21 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. März
Franz Hamburger; Oktober 2024 / März 2025

Vorbemerkung
In einem Land, dessen Bevölkerung zu einem Drittel als Menschen mit Migrationshintergrund oder Migrationsgeschichte oder ähnlich definiert wird, muss sich das Verständnis von Entwicklung und von entwicklungspolitischer Bildung grundsätzlich ändern. Denn es geht nicht mehr (wenn es im kolonialen Zeitalter überhaupt anders gewesen ist!) um etwas, was sich „draußen“ abspielt, sondern um etwas, was sich auch „innen“ ereignet. In einer Phase ökonomischer Globalisierung und touristischer Welteroberung konnten Entwicklungsprozesse vielleicht noch nach „draußen“ gedacht werden. In einem Land, dessen Bevölkerung durch Migration entsteht und entstanden ist, sind die Wechselwirkungen zwischen drinnen und draußen zu einem Strukturelement der Gesellschaft selbst geworden. Daraufhin ist Bildungsarbeit zu reflektieren und zu konzipieren.
Wie tiefgreifend die anstehenden Veränderungen sind und sein werden, hat in Bezug auf einen Aspekt Gaia Vince herausgearbeitet: Das nomadische Jahrhundert. Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird. München: Piper Verlag 2023. Es geht, darum, die herrschende Migrationspolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Füße, die sich rasch bewegen, sind die Folgen des Klimawandels im „globalen Süden“.
Migration
Die Diskussion über Migration und Integration leidet an vielen Scheuklappen. Eine davon ist das Starren auf die Zuwanderungszahlen, so wie ein Kaninchen sich die Schlange ansieht. Schon die Daten zur Abwanderung werden ignoriert, obwohl sie statistisch sorgfältig erhoben sind. Die Abwanderung ist dabei systematisch untererfasst und wird nach fachlicher Einschätzung erheblich unterschätzt, denn die Auswanderer melden sich in vielen Fällen nicht polizeilich ab. Warum sollten sie das auch tun! Deshalb wird die Zahl der Ausländer in Deutschland systematisch überschätzt und kann durch die vermutete Anzahl von Unangemeldeten nicht ausgeglichen werden.
Die verdummende Unaufmerksamkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass das nationale Interesse in Bezug auf die Grenzüberschreitungen nur an Kontrolle interessiert ist und darauf abzielt, die Grenzüberschreitungen ins Land zu steuern – obwohl das nur höchst begrenzt möglich ist. Die historische Erfahrung zeigt, dass eine Verschärfung der Grenzkontrollen die illegale Einwanderung erhöht und die Preise für die Ermöglichung dieser Migration steigen lässt. Das bornierte nationale Interesse berauscht sich an der Vorstellung, durch Abschieben und Ausweisen die Zahl der Migranten in Deutschland reduzieren zu können, eventuelle Belastungen durch sie verringern zu können, und ist noch nicht einmal zu einer schlichten Kosten-Nutzen-Rechnung der Abschiebeindustrie bereit. Ganz abgesehen natürlich von der Frage, was mit Abgeschobenen in ihrer Herkunftsgesellschaft geschieht, ob sie dort bleiben werden oder welchem Gewerbe sie dann nachgehen werden. Noch nicht einmal die Erfahrungen mit den US-amerikanischen Abschiebungen nach Mittelamerika werden in den Blick genommen. Dort organisieren Ausgewiesene in den Mara-Banden den Drogenhandel mit seinen verheerenden gesellschaftlichen Folgen für die mittelamerikanischen Ländern. Doch die USA brauchen enorm viel Kokain und Heroin und die US-erfahrenen Abgeschobenen wissen am besten, wie man den Handel grenzüberschreitend organisiert. Da sie subjektiv sicher sind, dass sie zu Unrecht ausgewiesen wurden, kennt ihre Grausamkeit auch selten eine Grenze. Nach ersten Berichten haben sich Mara-Banden nun auch in Südeuropa eingenistet (https://web.de/magazine/panorama/jugendbande-mara-salvatrucha-kinder-teufels-30712470).
Die wichtigste Einsicht: Das Versprechen von mehr Sicherheit in einem Sicherheits-Gesetzes-Paket führt zu mehr Unsicherheit an anderen Stellen. Auch raffinierte Gesetzespakete können einen Aspekt des „Problems“ angehen, schaffen jedoch neue Konfliktherde. Solange über Fluchtursachen noch nicht einmal gesprochen wird, so lange „Migrationsabkommen“ vorwiegend dazu dienen, dass abzuschiebende Menschen von ihren Herkunftsländern „zurückgenommen“ werden, so lange nicht mehr legale Möglichkeiten der Einwanderung geschaffen werden – so lange wird Migrationspolitik ein Wahlkampfthema mit verheerenden Folgen bleiben.
Das Migrationsvolumen als Gesamtheit der Zu- und Abwanderungen signalisiert, dass zirkuläre Migration eine Realität in einem erheblichen Ausmaß ist. Sie wird nur nicht wahrgenommen und nicht gestaltet. Es gibt zwar Rückkehrförderung und das BAMF findet dafür schöne Worte: „Migration ganzheitlich zu gestalten, bedeutet in diesem Zusammenhang auch, Menschen, die nicht in Deutschland bleiben können oder möchten, bei einer freiwilligen Rückkehr und der Reintegration durch individuell angepasste Angebote im Herkunftsland zu unterstützen.“ Doch diese Politik verbleibt ganz im Dunstkreis der Reduzierung von Flüchtlingsmigration. Auch das REAG-Programm wird ganz in den Dienst der herrschenden Flüchtlingspolitik gestellt: „Bund und Länder unterstützen mit dem humanitären Förderprogramm REAG/GARP 2.0 (Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany/Government Assisted Repatriation Programme) Personen bei der freiwilligen Rückkehr in das Herkunftsland oder bei der Weiterwanderung in einen aufnahmebereiten Staat Bei der zirkulären Migration geht es aber um eine andere Form. Die Zuwanderung wird so gestaltet, dass eine Rückwanderung für alle Beteiligten mit günstigen Folgen verbunden sein kann.“
Die historisch und gegenwärtig weit verbreitete Form der zirkulären Migration wird in Politik und Öffentlichkeit schlicht im ausschließlich nationalen Interesse gesehen. Damit entsteht erst gar nicht die Frage, welche Effekte mit der zirkulären Migration verbunden sind, wem sie zugutekommen und wie die Steuerung der Migration insgesamt im Hinblick auf den Nutzen der zirkulären Migration neu geordnet werden kann. Pro Asyl, also die Organisation, die sich konsequent für die Rechte von Geflüchteten einsetzt, hat vor vielen Jahren selbst den Vorschlag ausgearbeitet, die Zuwanderung aus Afrika so zu gestalten, dass mehr Menschen, die ihr Land verlassen wollen, nach Deutschland einwandern können, dass sie dort eine Weile – gut vorbereitet – berufstätig sind, einen Teil ihres Einkommens an ihre Familien in der Heimat überweisen, damit deren Entwicklung fördern, und dass sie nach einem längeren Aufenthalt als erfolgreiche Auswanderer zurückkehren können.
Beispiel Bezahlkarte
Die gehässige Politik der radikalen Begrenzung des verfügbaren Bargeldes für Asylsuchende mit der Begründung, dass das Bargeld über die Maßen für Rück-überweisungen verwendet werde, ist so ziemlich in allen Punkten das Gegenteil dieser Möglichkeit.
Seit Jahren wird von engagierten Gruppen versucht, eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes zu erreichen, indem endlich das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 angewandt wird („Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“) Wer sich an diesem Urteil orientiert, fordert, die Diskriminierung und Benachteiligung durch das Asylbewerberleistungsgesetz zu beseitigen. Aber die Einführung der Bezahlkarte bewirkt das Gegenteil – und die neue Bundesregierung 2025 hat schon im ersten Sondierungspapier festgehalten: „Wir wollen, dass die Bezahlkarte deutschlandweit zum Einsatz kommt, und werden ihre Umgehung unterbinden.
Begründet wurde die Einführung der Bezahlkarte u. a. mit der Behauptung, dass dadurch Bezahlungen an Schlepper und Schlepperbanden sowie in die Herkunftsländer verhindert werden solle. So steht es immer noch auf der Homepage der Bundesregierung. Schon während der Gesetzgebungsberatung wurde aber von Experten darauf hingewiesen, dass diese Begründung substanzlos sei. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) ist dieser Frage nachgegangen und weist nach, dass nur wenige in Deutschland lebende Flüchtlinge Geld ins Ausland überweisen. Im Jahr 2021 waren es sieben Prozent. Der Anteil der Geflüchteten, die Geld ins Ausland überweisen, ist zudem von 2013 bis 2021 von 13 auf 7 Prozent gesunken.
Die verbliebenen Überweisungen sind ein Mittel gegen den Hunger in Gebieten, aus denen die Flüchtlinge kommen. Gleichzeitig mindern sie weitere Fluchtursachen, denn die zurückgebliebenen Familien können in ihrer Heimat einigermaßen mit dem Geld weiterleben. Wissenschaftlich untersucht ist auch der Umstand, dass in Dürreperioden im Heimatland die Überweisungen zunehmen und auch so Hunger und Auswanderung vermieten werden. Auch wenn der große Anteil bei den Rücküberweisungen von nicht geflüchteten Personen, die im Arbeitsleben stehen, geleistet werden, sind die Rücküberweisungen gerade für die Krisenregionen, aus denen die Geflüchteten kommen, lebenserhaltend.
Noch nicht einmal die Geschichte der Gastarbeitermigration ist in Erinnerung: Von 14 Millionen, die nach Mitteleuropa auf die Anwerbung hin migrierten, sind 11 Millionen zurückgekehrt. Zwar ist dies vielfach nicht freiwillig geschehen, sondern auf Druck durch Prämien oder Auslaufenlassen der Aufenthaltserlaubnisse. Aber die meisten konnten mit einem gewissen wirtschaftlichen Erfolg in der Tasche oder auf dem Konto zurückkehren. Der erfolgreich zurückkommende Auswanderer ist beispielsweise auch in der Migration des 19. Und 20. Jahrhunderts die attraktive Figur einer positiv verstandenen zirkulären Migration.
Die im Lauf des Jahres 2024 abgeschlossenen Migrationsabkommen zielen dagegen auf den Abbau von Hindernissen für eine reibungslose Abschiebung und auf Anwerbung von Qualifikationen ausschließlich im nationalen Interesse. Die Regierungen der Herkunftsländer werden für solche Abkommen, die freilich geheim gehalten werden, fürstlich entlohnt. Sie werden, wie die nordafrikanischen Staaten, mit diesen Millionen gewissermaßen unabhängig von den Steuern und Abgaben ihrer eigenen Bevölkerung und können die Reste demokratischer Ordnungen geruhsam beseitigen oder auslaufen lassen, denn sie erhalten die Ressourcen für ihr verschwenderisches Existieren aus dem Ausland. Ihre Polizei und ihre Armee können sie mit Unterstützung der europäischen Staaten umfangreich ausbauen. Wozu die Armeen und besonders die gelieferten Waffen verwendet werden, entscheiden sie selbst. Die in der Wüste Tunesiens verhungerten Geflüchteten aus Afrika haben erfahren müssen, wozu das gut ist.
Eine andere Form der Thematisierung von Remigration ist die Vorstellung von völkischen Geistern, durch Vertreiben der Menschen mit Migrationshintergrund ein ethnisch reines Volk herstellen zu können – etwas was es noch nie gegeben hat. Mit dieser Politisierung ist das vernünftige Denken über zirkuläre Migration endgültig destruiert worden.
Doch zurück zum Ausgangspunkt. Jährlich und täglich ziehen Menschen mit Migrationshintergrund aller Art wieder aus Deutschland weg. Viele sind Deutsche und ihre Eltern oder Großeltern sind nach Deutschland eingewandert.
Migrationsvolumen und Fluktuation
Im Migrationsbericht 2021 wird die Alarmmeldung an den Anfang gestellt: „Nettozuwanderung in Deutschland steigt wieder“. Nur 994.303 Ausländer waren weggezogen und dies konnte den Zuzug nicht ausgleichen. Auch 2020 konnten 966.451 Fortzüge die mehr als eine Million Zuzüge nicht ausgleichen. Ähnlich verhielt es sich seit 2016. Damals jedoch war die Nettozuwanderung auf eine halbe Million gestiegen und sank dann im Jahr 2020 auf 220.251 (soweit der Migrationsbericht 2021). Die Einwandernden werden sorgfältig analysiert, die Auswandernden werden nach einigen statistischen Kategorien eingeordnet. Dass die EU das Reservoir der Zu- und Abwanderung ist, wird in den Migrationsberichten deutlich gemacht, ebenso dass einzelne EU-Mitgliedstaaten das Migrationsreservoir bilden. Das analytische Interesse richtet sich nicht darauf, was die Einwanderung im Auswanderungskontext anrichtet und auch nicht darauf, was die Auswanderer aus Deutschland im Zielland bewirken.
In einem eigenen Kapitel wird aber der Abwanderung in einem längeren Zeitraum nachgegangen. Die Abwanderung war seit 2010 parallel mit der Zuwanderung angestiegen und hat nach 2016 erst um ein Jahr zeitverzögert den Rückgang bei der Zuwanderung ebenfalls vollzogen. Zu- und Abwanderung verlaufen nahezu synchron – etwas was die politische Diskussion vollständig ausblendet. Bei den Auswandernden wird genauer betrachtet, aus welchem Rechtsstatus die Auswanderung vollzogen wurde und welche Berufsgruppen überhaupt nachweisbar als Auswanderer erfasst sind. Ergebnisse dazu liegen nur für Ärzte vor und für Wissenschaftler, die, von Deutschland gefördert, ins Ausland gezogen sind. Auch hier dominiert ein beschränktes Interesse an denen, deren Tätigkeit im Inland erwünscht ist. Eine weitergehende Analyse unterbleibt. Selbst die Nettoeinwanderung könnte man in der Öffentlichkeit allein schon deshalb kommunizieren, um die extrem agitierten Vorstellungen über die „Einwanderungsflut“ realistisch zu korrigieren. Das unterbleibt, denn mit den Daten der Nettoeinwanderung kann man keinen Schrecken verbreiten.
Für das Jahr 2020 werden im Migrationsbericht 2021 Zuwanderungen im Umfang von 1.323.466 berichtet. Die Schreckensmeldung in den Medien hieß: „Schon wieder mehr Zuwanderung“. Gemildert wurde der Alarm durch den Hinweis, dass Deutschland Arbeitskräfte brauche. (Generell: https://de.in-mind.org/article/vom-rechten-rand-auf-seite-1-wie-die-medien-unsere-meinung-ueber-rechtsextremismus-und-Einwanderung-beeeinflussen). Wenn es aber um Geflüchtete geht, dann gibt es kein Pardon: https://www.sueddeutsche.de/medien/universitaet-mainz-marcus-maurer-gefluechtete-1.5353283. Mit einem positiven Wanderungssaldo von 329.163 Personen bei 400 000 benötigten Arbeitskräften könnte man keinen Skandal ausrufen und keine Angst schüren. Wichtig aber ist: Die nüchterne Sprache der Migrationsberichte ist dazu auch nicht in der Lage. Es bedarf der politischen Erhitzung, die regelmäßig in Wahlkämpfen stattfindet. Diese Erhitzung ist dann meinungsbildend und nicht informierend und dient als Rechtfertigung der nächsten politischen Erhitzung. Das Merkwürdige ist dann, dass „etwas Normales“, nämlich die kontinuierliche Zuwanderung, die in den Nachkriegsjahren noch sehr viel umfangreicher gewesen ist, als etwas Aufregendes wahrgenommen werden kann.
In den acht Jahren von 2016 bis 2021 (mit dem starke Zuzugsjahr 2016) sind neun Millionen deutsche und ausländische Staatsangehörige nach Deutschland zugezogen. Im selben Zeitraum sind 6.8 Millionen Personen fortgezogen. Der Anteil der deutschen Staatsbürger belief sich bei den Zuzügen auf ca. 10-12%, bei den Fortzügen auf 10 – 22%.
Aber auch über einen längeren Zeitraum gibt es lediglich quantitative Verschiebungen, aber keine Strukturveränderung. Im Zeitraum von 1991 bis 2014 wurden 22,7 Millionen Zuzüge vom Ausland nach Deutschland registriert (Migrationsbericht 2014). Im gleichen Zeitraum sind 16,8 Millionen Personen aus dem Bundesgebiet ins Ausland fortgezogen (Wanderungsüberschuss etwa 5,9 Millionen). Durchschnittlich sind mehr als 1,7 Millionen Menschen eingewandert und weit mehr als eine Million weggezogen. Insgesamt ergibt sich für die acht Jahre ein Wanderungsvolumen von 23 Millionen, wobei ca. 13 Millionen zu- und neun Millionen Menschen weggezogen sind. Deutschland hat jährlich ein Migrationsvolumen von mehr als 2 Millionen Menschen.
Die wenigen Daten weisen auf eine Wirklichkeit hin, die mit dem Bild in der Bevölkerung kaum etwas zu tun hat, noch weniger in der politischen Diskussion. Lediglich die Bedarfsmeldungen zu den benötigten Arbeitskräften bilden ein Gegengewicht gegen die populistische Aufheizung. Sie stellen instrumentell den Nutzen der Migranten in den Vordergrund. Gleichzeitig gibt es aber nicht die Forderung nach angemessenen Investitionen für diese Arbeitskräfte, deren Gestehung das Herkunftsland zu tragen hat.
Um die „Unruhe“ verstehen zu können, die in einer Gesellschaft durch eine stetige Veränderung ihrer Zusammensetzung entsteht, muss man also das Migrationsvolumen, die Summe von Zu- und Abwanderung betrachten. Die stete Fluktuation erfordert von den betroffenen Menschen kontinuierliche Veränderung ihres Gesellschaftsbildes. Wenn diese Veränderung blockiert wird, beispielsweise durch die lange Leugnung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, dann entstehen Abwehr der Realität und Flucht in irreale Volksgemeinschaftsideologien. Für die Veränderung in den sozialen Beziehungen sorgen auch vier Millionen Umzüge, die im Lauf eines Jahres innerhalb des Landes stattfinden.
Es ist ein Problem, dass weder die einfachen empirischen Prozesse bei der Transformation Deutschlands eine Rolle spielen bei der öffentlichen Kommunikation, noch die Gründe angesprochen werden, warum es zu dieser Transformation kommt. Die kapitalistische Ökonomie benötigt ständig neue Arbeitskräfte mit neuen Qualifikationen. Diese werden nur teilweise im eigenen Land „produziert“, sie müssen aus dem Ausland, das beigeschafft werden. Die Diskussion über „Fachkräftemangel“ zeigt täglich, worum es geht. Die gegenwärtige Verlagerung des „illegalen Zustroms“, wie CDU und AFD den Einwanderungsprozess zu etikettieren pflegen, nach Indien und China (bei der ausländischen Studierenden in Deutschland stehen die Studierenden aus China seit einiger Zeit an erster Stelle) ist ein Symptom dieser Dynamik.
Entwicklung durch Einwanderung
Was die deutschen Migranten betrifft, hat Deutschland einen negativen Wanderungssaldo, wandern also mehr Deutsche ab als zuziehen. Generell gibt es aber einen Einwanderungsüberschuss durch die zuziehenden Ausländer. Die deutsche Gesellschaft wächst im Wesentlichen nur noch durch Einwanderung von Ausländern, ohne die sie überaltert wäre und schrumpfen würde. Ob das nützlich oder schädlich wäre, wird heftig diskutiert – die Sicherung des Sozialstaats ist nur durch die Zuwanderung einer jungen Bevölkerung möglich. Und genau dies ist der Fall bei der Zuwanderung von Geflüchteten.
In der internationalen Mobilität sind grundsätzlich jüngere Personen dominant. Zunächst liegen nur Daten für die deutschen Ein- und Auswanderer vor. Sie sind deutlich jünger als die Nicht-Wandernden. Ferner gehen überwiegend Akademiker ins Ausland. Drei Viertel der Ausgewanderten haben einen Hochschulabschluss, in der nicht-mobilen Bevölkerung liegt der Anteil bei etwa 25 Prozent. Doch auch unter den ausländischen Einwandernden liegt dieses Verhältnis vor. 73 % der Zugezogenen (2022) sind zudem unter 40 Jahren alt, bei der residenten Bevölkerung sind es 43 %. Migranten sind im Vergleich zur Bevölkerung in den Herkunftsländern ökonomisch, bildungsmäßig und sozial bessergestellt. Bei den Geflüchteten gibt es tendenziell eine Polarisierung zwischen einem hohen Anteil sehr gut Qualifizierter und einem Anteil weniger qualifizierter Menschen.
Doch generell gelten die Maßverhältnisse auch für die Geflüchteten. Es fliehen nicht die Armen aus den Kriegsgebieten Asiens und Afrikas, sondern diejenigen, deren Familien die Kosten für die Flucht aufbringen können. Die Armen fliehen bestenfalls, um ihr Leben zu retten, in einen Nachbarstaat oder eine Nachbarregion. Es fliehen diejenigen nach Europa, die nicht nur ihr Leben retten wollen, sondern auch glauben, dass sie durch die Flucht ein besseres Leben für sich und ihre Familien erreichen können. Es fliehen die Jungen und die Alten bleiben zurück.
Durch die Einwanderung, auch und besonders der geflüchteten Menschen, wird Deutschland ökonomisch und bildungsmäßig positiv entwickelt. Ohne sie wäre Deutschland stark überaltert und die soziale Sicherung wäre nicht zu gewährleisten. Ohne Zuwanderung würde die Versorgung mit Renten und Krankenversorgung zusammenbrechen. Der technologische Fortschritt und die Digitalisierung, wie problematisch sie auch immer ist, würde verlangsamt – noch mehr deutsche qualifizierte Personen könnten ins Ausland auswandern.
Auch wenn solche Überlegungen utilitaristischer Art sind und lediglich den Nutzen der Einwanderung in den Vordergrund stellen, können sie den Furor der ausländer- und flüchtlingsfeindlichen Propaganda und Politik nicht bremsen. Ein dumpfer Nationalismus hat sich breit gemacht, der bis hin zur Kriegsbereitschaft und Kriegstüchtigkeit strebt. Die Globalisierung hat den reichen entwickelten Ländern genutzt, auf ihre Abschwächung reagieren die europäischen Länder nationalistisch und rassistisch. Hätten sie die Einwanderung nicht, dann würden sie insgesamt regredieren. Und die menschenrechtliche Argumentation, die bei „passender“ Gelegenheit im Mund geführt wird, rückt ganz an den Rand.
Exkurs: Ausbeutung statt Entwicklungshilfe
Die globalen Wanderungsbewegungen folgen in zentralen Linien den Wegen des Geldes. Das zeigt sich am Verhältnis der armen und reichen Länder.
Es ist nicht so, dass wir bei der Entwicklungshilfe zu wenig geben. Es ist vielmehr so, dass wir zu viel nehmen. Denn nach den Berechnungen des „Internationalen Netzwerkes Steuergerechtigkeit“ fließt aus den sogenannten Entwicklungsländern ein riesiger Strom Geld in die Steueroasen und die reichen Länder der Welt. „Die Entwicklungsländer verlieren durch illegale Finanzströme jährlich ein Vielfaches dessen an Kapital, was sie durch öffentliche Entwicklungshilfe erhalten. Allein durch Preismanipulationen von Konzernen verlieren die armen Länder jährlich 160 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen; das ist deutlich mehr als sie an Entwicklungshilfe erhalten.“ (Markus Meinzer: Der neue Kolonialismus, SZ 12.4.2013, S.2)
Auch die Kooperation zwischen den reichen Ländern und den Reichen der armen Länder trägt zur Aufrechterhaltung dieser ungerechten Ordnung bei. Im sogenannten „Offshore“-System arbeiten Heerscharen hoch bezahlter Anwälte, Banker und Wirtschaftsprüfer für die Superreichen, für die Geldwäscher und Konzerne, damit diese die komplexen Fluchtwege für ihr Geld nutzen können. Deutschland hat 2009 die Steuerkooperation mit Entwicklungsländern eingeschränkt. Davon profitieren wir. Schließlich liegen 1,3 Billionen Euro ausländisches Geld auf deutschen Konten. Muammar al-Gaddafi hatte sechs Milliarden in Deutschland angelegt. Warum sollten die Menschen nicht diesen lukrativen Strömen zum Reichtum folgen? Warum soll der Tellerwäscher nicht etwas von dem haben wollen, was der Geldwäscher im Überfluss besitzt und protzig in den Jachten der Luxushäfen zur Schau stellt – gerade im Mittelmeer, wo gleichzeitig so viele Flüchtlinge ums Leben kommen?
Tatsächlich ist es, und das ist das Erstaunliche, nur weniger als 1 Prozent der Menschen, die aus der Not in das Reich des Reichtums fliehen. Würde man die Steueroasen, die eigentlich Schattenwirtschaftsplätze sind, einhegen, dann könnte die wirtschaftliche Entwicklung der armen Länder alle diese Menschen an sich binden. Zwei Prozent der Weltbevölkerung leben heute nicht in ihrem Heimatland. Und nur ein Bruchteil von ihnen sind Flüchtlinge. Und nur ein Bruchteil von ihnen wiederum erreicht die reichen Länder. Aber im Jammern über ihren angeblich gefährdeten Reichtum stehen diese Länder an der Spitze. In Wahrheit finanzieren die ärmsten Länder unseren Zweitwagen und unseren Espressoautomaten.
Integration
Jede Erörterung von Fragen der Integration soll sich der referierten Daten vergewissern, die als Ausgangssituation verstanden werden kann. Das neuere Migrationsgeschehen in Deutschland hat die folgende Zusammensetzung der Bevölkerung bewirkt: Von den im Jahr 2023 „83,8 Millionen in Deutschland lebenden Personen sind 16,2 Millionen (19,3 %) seit 1950 nach Deutschland eingewandert. Bei 5,0 Millionen Personen waren beide Elternteile nach Deutschland eingewandert (6,0 %). Damit hatten im Jahr 2023 21,2 Millionen Personen (25,2 %) eine Einwanderungsgeschichte. 4,0 Millionen Personen (4,8 %) hatten nur ein eingewandertes Elternteil und 58,7 Millionen (70 %) waren ohne Einwanderungsgeschichte.“ (Sozialbericht 2024, S. 30f.)
Dabei werden die „Übersiedler“ aus der DDR in die BRD nicht berücksichtigt, ebenso wenig die Vertriebenen und Flüchtlinge in den Nachkriegsjahren. Doch in der Generation, die das Flucht- und Vertreibungsschicksal nach dem Krieg erfahren hat, ist die Erinnerung an diese Zeit nicht verschwunden. Wenn man es anspricht, dann erhält man viele wache Erzählungen. Dass aber in Millionen Familien und erst recht in der Öffentlichkeit die Geschichte der Flucht verschwiegen wird, ist dem Umstand geschuldet, dass „Flucht“ ein unangenehmer und gering geschätzter Status zu sein scheint. Erinnerung könnte dagegen etwas mehr für Verständnis für die heute Fliehenden wecken.
Der Bevölkerungsanteil mit Migrationsgeschichte ist regional verschieden und beläuft sich beispielweise im Regierungsbezirk Südhessen auf mindestens 35%. In vielen statistischen Bezirken der Städte sind die Deutschen ohne Wanderungsgeschichte eine Minderheit. Wer wirklich politisches Verständnis für sie haben will, wird sie nicht gegen die Zugewanderten aufhetzen. Die Daten signalisieren zweifellos die Bedingungen, warum Migration zu einer wichtigen gesellschaftspolitischen Frage geworden ist. Aber die Art ihrer Behandlung trägt der Relevanz für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung nicht Rechnung. Menschen mit Migrationsgeschichte sind im Durchschnitt 10 Jahre jünger als die „Alt-Bevölkerung“. Einwanderung ist nicht Einwanderung in die Sozialsysteme, sondern Einwanderung zur Sicherung der Sozialsysteme und der sozialen Ordnung Deutschlands.
Das Integrationsregime ist nicht nur in Deutschland ruiniert. Die Integration der Eingewanderten, wenn man darunter etwas mehr versteht als die Herstellung der ökonomischen Verwertbarkeit, muss sich gegen die öffentliche Meinung und die Regeln der zugemuteten Integration realisieren – und mehr denn je gegen die Politik der Regierung. Jeder Migrant und jede Migrantin spürt doch, was von ihr erwartet wird und wie sie bewertet wird. Und der Alltagsrassismus macht es ihr nachdrücklich deutlich. Das wirkt nicht nur, wie erwünscht, auf die soziale Orientierung von Geflüchteten, sondern auch auf die Selbstwahrnehmung der erwünschten Arbeitskräfte. Die Verringerung der Mittel des Bundes für die elementaren Integrationskurse vollendet gewissermaßen die Flüchtlingspolitik.
Als desaströs haben sich die Wartezeiten insbesondere für die akademischen Berufe erwiesen. Bis zur Anerkennung ihrer Qualifikationen, bis zum tatsächlichen Angebot der Übergangsqualifizierungen dauert es subjektiv gespürt „ewig“ – eine für die Menschen und die Gesellschaft absolut „leere“ Zeit. Gleichzeitig wirkt sich die Hinhaltepolitik für Geflüchtete, beispielweise aus den Ländern, in die das Rückschiebeverbot der Flüchtlingskonvention gilt und auch weiterhin gelten wird, demotivierend aus – sowohl für die Menschen selbst wie auch für die, die sie möglicherweise in den Arbeitsprozess eingliedern können. Denn wer stellt einen Mitarbeiter ein und lernt ihn an, wenn er nicht weiß, wie lange er ihm zur Verfügung steht. Eine klare Aufenthaltssicherung nach einer bestimmten Zeit und nicht die immer wieder erhobene Forderung, für solche Heimatländer wieder die „Rückkehrfähigkeit“ herzustellen, kann erheblich zur Sicherheit beitragen – nicht das sogenannte „Sicherheitspaket“. Besonders skurril ist die Praxis, Menschen in die Länder verstärkt abzuschieben, mit denen ernsthaft EU-Integrationsverhandlungen geführt werden, wie z.B. Georgien oder Albanien. Es ist darüber hinaus geradezu verwerflich, über Abschiebemaßnahmen in Länder nachzudenken, die durch die Kriege des Westens verwüstet wurden.
Man braucht für eine solche Umorientierung der Flüchtlingspolitik noch nicht einmal menschenrechtliche Überlegungen, zu denen Teile der Regierung ohnehin nicht in der Lage sind, sondern schlicht das Einmaleins um klarzustellen, wie unsinnig das Abschiebungssystem ist, wenn die Menschen in ein paar Jahren wieder nach Deutschland zurückkommen können – wo sie ja auch gebraucht werden. Das nur nationalstaatlich begründbare Kontrollinteresse in Bezug auf den Grenzübertritt dominiert über allem. Viereinhalbmilliarden Mal setzen sich im Jahr Menschen in ein Flugzeug und genießen die globale Freiheit und Mobilität – aber ein paar Tausend Flüchtlinge werden strikte kontrolliert und abgewiesen und abgeschoben. Und Europa hat nicht nur Mauern gebaut, sondern setzt auch Waffen zur Abwehr ein und lässt Schiffe mit Flüchtenden auf dem Meer versinken.
Die Gestaltung der Integration verdient an vielen Stellen eine Veränderung. Doch muss ein Mechanismus besonders hervorgehoben werden. Die Qualifikation verwertbarer Arbeitskräfte kostet bei den Staatsangehörigen einige Hunderttausend Euro vom Säugling bis zum Gesellen. Die Kosten für die Qualifikation der Eingewanderten soll das Herkunftsland tragen, ohne dass es in den Nutzen seiner Ausgaben gerät. Ca. 9.000 Euro kostet die notdürftige Qualifizierung einer Pflegehilfskraft in Albanien im Herkunftsland, wie sie beispielsweise von einem Zusammenschluss Offenburger Kliniken zur Beschaffung von Arbeitskräften organisiert wird. Und über diese Kosten wird dann noch laut Klage geführt. Dass die Bedingungen der Begleitung und laufenden Unterstützung im Arbeitsprozess so sind, dass viele Pflegekräfte dann wieder ihre Tätigkeit beenden, auch weil ihr Einkommen mit den Lebenshaltungskosten in Deutschland nicht Schritt halten kann, bleibt schon bei diesem „Modell“ außer Betracht.
Bezogen auf Geflüchtete könnten die folgenden Schritte eine Transformation des Systems ermöglichen: Nach einer rechtstaatlich korrekten Prüfung des Asylantrags (die bei der ausgelagerten Prüfung des Antrags vor der Grenze Europas nicht gesichert ist) erfolgt eine Entscheidung über eine mittelfristige Aufenthaltsberechtigung, verbunden mit intensiver und wirksamer Qualifikation mit der Option einer geförderten Rückkehr, die die erworbenen Qualifikationen für das Herkunftsland fruchtbar machen soll und in dessen Entwicklungsperspektive sie integriert werden. Nach rechtsstaatlicher Prüfung kann eine Person auch ausgewiesen werden. Das ist im System der staatlich geordneten Welt nicht anders zu erwarten. Es gibt ein Recht auf Migration, aber kein Recht auf Einwanderung in ein bestimmtes Land. Dieses unauflösbare Dilemma wird die nächsten Jahre und Jahrzehnte bestimmen. Ein Dilemma lässt keine gute Wahl zu – aber sie menschenrechtlich und nach dem ersten Satz der Verfassung zu gestalten, bleibt die Aufgabe von Staat und Gesellschaft.
Entwicklung
Bei den Berichten über die Migrationsabkommen wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass die Regierungen der Länder, die Abgeschobenen aufnehmen und Arbeitskräfte abgeben sollen, diese Abgabe begrüßen, weil sie über genügend qualifizierte junge Menschen verfügen würden. Ob dieser Wunsch zutrifft oder nicht, wird nicht geprüft, vor allem, ob es um das Loswerden einer unbequemen, Veränderungen fordernden Jugend geht. Die Qualifizierung der zur Ausreise Bereiten hat das Herkunftsland geleistet, insoweit ist der Braindrain in vollem Gange und wird durch die Migrationsabkommen beschleunigt. In welchem Verhältnis die Wirkungen von Abgabe junger Qualifizierter und die Rücknahme gescheiterter Migranten stehen, bleibt in der politischen Bewertung außer Betracht – die Bilanz dürfte erschütternd sein. Denn was kann man beispielsweise von abgeschobenen Straftätern erwarten? So lange diese Frage praktisch tabuisiert ist, kann von humanitär begründeter Entwicklungspolitik nicht gesprochen werden. Doch soll die Kritik an dieser Stelle mit Überlegungen zur Weiterentwicklung der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit verbunden werden.
1. Entwicklung als übergreifendes Konzept
In traditionellen Vorstellungen zur Entwicklung (von der Entwicklungspsychologie und ähnlichen Themenfeldern, die sich mit „Entwicklung“ befassen, wird hier abgesehen) ist in der Regel eine Vorstellung von Entwicklung als globaler Modernisierung leitend. Diese werden zwar menschenrechtlich fundiert, in die Konkretisierungen fließen aber explizit oder implizit die Elemente modernisierter Gesellschaften „des Westens“ ein. Dort wo traditionelle Gesellschaften nach ihrer eigenen Logik erhalten bleiben sollen, ist der Begriff der Entwicklung fehl am Platz, denn er kann sich grundsätzlich nicht davon lösen, dass er eine moderne Vorstellung ist - ab wann auch immer Modernisierung angesetzt wird. Außerdem kann er nicht davon abgelöst werden, dass er als Konzept grundsätzlich von außen kommt und nicht von den gesellschaftlichen Inseln, um die es in einem solchen Fall von „Entwicklung“ geht.
Wenn man sich aber von der Vorstellung von Entwicklung löst, dass der eine den anderen entwickelt bzw. ihm Vorgaben (IWF, WTO und Weltbank) für seine Entwicklung macht oder gar ihn abwickelt, dann wird Entwicklung als Prozess verstanden, der von allen beteiligten Seiten her beeinflusst und bestimmt wird. Notwendig ist die Komplementarität, damit jeder sich in seiner wechselseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung begreifen kann. Entwicklung bezieht sich dann einerseits auf global definierte Relevanzen, in der Vorstellung von Partnerschaft und Selbstbestimmung auf die Unhintergehbarkeit der je eigenen Tätigkeit andererseits. In der Agenda 30, den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, sind solche Vorstellungen festgehalten und als Orientierungsnorm definiert. Sie bedürfen aber auch noch der kritischen Reflexion aus der Perspektive des „globalen Südens“. Denn sie repräsentieren eine bestimmte, westliche Vorstellung von Moderne.
Noch wichtiger ist dabei jedoch der Blick auf die Machtverhältnisse, in denen Kooperation und Kommunikation stattfinden. Zwar sind „post-koloniale“ Studien en vogue, aber man kann nicht davon sprechen, dass der Kolonialismus zu einer vergangenen Epoche gehört. So ist Arbeit am Begriff erforderlich. Theorien der Dependenz oder der Ungleichheit oder der fragmentierten Globalisierung können viele Prozesse differenzierter erfassen. Auch die Rede vom „globalen Süden“ und „globalen Norden“ ist grobschlächtig, denn sie missachtete die riesigen Unterschiede zwischen arm und reich sowohl im Norden wie im Süden.
2. Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft
Bildungsarbeit bezieht sich auf einen der genannten Rahmen, findet aber in je konkreten Situationen mit und von den dabei beteiligten Personen statt. Doch die Prinzipien der Entwicklungsdefinition gelten auch für die Organisation und Gestaltung von Bildung, von Bildungsangeboten und Veranstaltungen. Die beteiligten Personen und Personengruppen bringen ihre Vorstellungen ein und arbeiten sich aneinander ab bei der Tätigkeit, sich die Anforderungen der globalen Entwicklung anzueignen. Sie bringen dabei auch ihre Vorstellungen für die Entwicklung des je eigenen und des anderen Handlungszusammenhangs ein.
Wenn man dies in die übliche Ausdrucksweise bringt, bedeutet es: Einheimische und Zugewanderte sprechen über Entwicklungsnotwendigkeiten des gemeinsamen Landes, in dem sie jetzt leben, über die Entwicklung des jeweiligen Herkunftslandes, den globalen Zusammenhang als auch die Kultur des Einwanderungslandes. Dabei zeigt sich als erstes, dass die hier verwendete Unterscheidung hinfällig ist, denn die Einheimischen sind die, die „vorher“ eingewandert sind und deren Nachfahren. Denn wenn man beispielsweise die nach 1945 großen Wanderungsbewegungen berücksichtigt, nämlich die Zuwanderung von 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Krieg, die Zuwanderung von 14 Millionen Gastarbeiter ab 1955, von denen 11 Millionen vorläufig zurückgewandert sind, und die anhaltenden Flüchtlingsbewegungen (aus Ungarn über den Bürgerkriegen in Jugoslawien und in Syrien bis hin zum Krieg in der Ukraine) und die permanente Arbeits- und Studienmigration im europäischen Raum, dann ist die Unterscheidung sehr unbrauchbar. Lediglich Gruppen, die kürzlich gekommen sind, lassen sich von Gruppen unterscheiden, die vor längerer Zeit eingewandert sind. In diesem Sinne ist die Gesellschaft post-migrantisch und wird es jeden Tag mehr mit der Zuwanderung von Personen und Gruppen. Der Begriff richtet die Aufmerksamkeit auf die notwendige Gestaltung von Einwanderungsgesellschaften.
In der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit arbeiten nun alle Gruppen und Individuen gemeinsam an den entwicklungspolitischen Zielen und beziehen deren Ansprüche auf die eigene gemeinsame Lebenssituation. Auch wenn im Einzelnen dabei konkrete Aufgaben gefunden werden, die in den entwicklungspolitischen Zielen nur am Rande erfasst sind (beispielsweise Diskriminierungsvermeidung und -kritik, Angleichung der Rechtspositionen), so ergeben die 17 Ziele doch hinreichendes Material für den Bildungsprozess und Konsequenzen für konkrete Aktivitäten her.
3. Flucht- und andere Migrationsursachen
Die eingewanderten Personen sind individuelle Experten für die Aufklärung über Ursachen ihrer eigenen Flucht und Migration. Die Verschiedenheit der Situationen, die zur Mobilität veranlassen, und die Verschiedenheit der individuellen Entscheidung und Bewältigung der Flucht und Migration eröffnet in jedem Bildungsgespräch ein Panoptikum, ein unüberschaubares Feld von Ursachen, Bedingungen, Motiven und Erfahrungen. Sie erschließen menschliche Handlungsmöglichkeiten wie auch Zwänge und gesellschaftliche Notlagen. Sie in dieser Verschiedenheit zu verstehen und in ihrer Gemeinsamkeit zu ergründen ist wesentlicher Bestandteil von Bildungsprozessen. Dabei zeigt sich auch, dass jeder Migrant seine biografisch begrenzte Perspektive hat wie ebenso jeder Eingeborene.
Die verschiedenen Gruppen von Einwanderern sind in unterschiedlicher Weise mit ihrem Herkunftsland verbunden, haben aktive Beziehungen, unterstützen ihre zurück gebliebenen Familien, oder werden von dort unterstützt, möchten mit dem Herkunftskontext nichts mehr zu tun haben, oder arbeiten eingegangene Verpflichtungen ab usw. Diese je besondere Art der Beziehung bestimmt in hohem Maße die persönliche Sicht auf Herkunft und Zukunft und wird immer schon persönlich-privat oder kommunitär-gemeinschaftlich („communities“) bearbeitet. Die Verschiedenheit dieser Befindlichkeiten, die die Ausgangssituation einer jeden Bildungsarbeit beeinflussen, ist Chance, freilich aber auch Blockierung und Begrenzung gemeinsamer Bildungsanstrengungen. Aber sie können mit konkreten Folgerungen verbunden sein, ermöglichen sie doch Einsichten über die Verflechtungen in der Welt und die Notwendigkeiten, sie entwicklungsfördernd zu nutzen.
Von einem sachlichen Ausgangspunkt her ist der Umstand bedeutsam, dass die Rimessen (insbesondere Auslandsüberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer) global gesehen einen wichtigen Teil der Wertschöpfung in verschiedenen Ländern ausmachen. So sind sie mehr als doppelt so umfangreich wie weltweit an Entwicklungshilfe überwiesen wird – um an diesen Sachverhalt noch einmal zu erinnern.
4. Entwicklung der postmigrantischen Gesellschaft
Ebenso ist die Konfrontation der länger schon oder gerade einheimisch Gewordenen mit dem Sachverhalt der erwünschten oder auferlegten oder abgewehrten Zuwanderung ein Thema, das ebenso ein Kaleidoskop von unterschiedlichen Erfahrungen und Wirklichkeitsdefinitionen erschließt. An diesen Themen zu arbeiten ist ein Beitrag zum Entwicklungsprozess der postmigrantischen Gesellschaft, die begrenzt modern, aber sicherlich in-perfekt ist.
Die gerade Zugewanderten erfahren in der Regel sowohl die enorme Leistungsfähigkeit der Einwanderungsländer, deren fortgeschrittene Ökonomie und moderne Infrastruktur umfangreiche Hilfe zu organisieren ermöglichen, als auch die Blockierung durch Ethnozentrismus und Diskreditierung im sozialen Umgang miteinander. Diese Attitüden werden nun nicht nur bei den „Alteingesessenen“ erlebt, sondern auch bei allen Gruppen der Gesellschaft – wie sie auch in allen Gruppen reflektiert und abgebaut werden können. Dass sich große Gruppen und Regionen in diesem Land der funktionierenden Infrastruktur und der materiellen Mindestsicherung „abgehängt“ fühlen, verwundert manche Migranten, wenn sie ihre Situation oder die Regionen ihrer Herkunftsgesellschaft bedenken.
All dies zu bearbeiten ist viel - die entwicklungspolitische Bildung kann wenigstens einen Beitrag leisten.
Zusammenfassung
Die OECD hat neuerdings in einer Studie hervorgehoben, wie wichtig der Beitrag der Migration zur regionalen Entwicklung in den Einwanderungsländern ist. Dabei bezieht sie sich nicht auf die armen, sondern auf die reichen Länder, in die hinein die Migration im Wesentlichen stattfindet (OECD, The Contribution of Migration to Regional De-velopment, OECD Publishing, Paris 2022.DOI: https://doi.org/10.1787/a632e7b7-en). Dabei werden die tatsächlichen Potenziale der Migranten, gemessen an ihren formalen Qualifikationen, noch gar nicht vollständig genutzt. Migration ist ein Beitrag zur Entwicklung der Einwanderungsgesellschaft. Dieser Beitrag könnte also noch größer sein. Ihr Beitrag zur Entwicklung der Auswanderungsgesellschaft ist umstritten.
Die Anerkennung des Entwicklungsbeitrags der Migration versetzt die Migranten in eine gleichwertige Position im Vergleich zu den „Einheimischen“ der gerade gewesenen Einwanderung. Dies ist eine Bedingung des Bildungsprozesses „auf Augenhöhe“. Thema der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit ist das breite Feld von der persönlichen Erfahrung der jeweils Anwesenden bis hin zu den inter- und transnationalen wirtschaftlichen und politischen, kulturellen und ökologischen Zusammenhänge. Das leitende Prinzip der mündigen Selbstbestimmung gilt ebenso für die Entwicklung der beteiligten Personen wie für die globale Entwicklung der Staaten und Völker. Die Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit und der praktische Wille zur partnerschaftlichen Aktivität ist Voraussetzung, Anlass und Ergebnis des Bildungsprozesses. Emphatisch gesprochen ist dies die Alternative zum Krieg aller gegen alle.