Milchkuh des Sozialstaats oder Vorhut der Zivilgesellschaft
- Bruno Hoffmann
- 11. Jan.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. März
Über Ehrenamt und Bürgerliches Engagement.
Franz Hamburger

Prof. i.R. Dr. Franz Hamburger Auch als Vorstandsmitglied bin ich im Ruhestand, aber arbeite mit. Dabei begleite ich vor allem das ELAN-Projekt zur entwicklungspolitischen Bildung im Zusammenhang der Migration. Seit 1978 war ich an der Universität Mainz tätig – das erste Projekt zusammen mit Studierenden war: Erstellung eins Ausländerberichts für die Stadt Mainz. So hieß das damals. Heute sprechen wir von der superdiversen Stadt und ihren vielen Minderheiten. In manchen Vierteln zählen dazu auch die Menschen ohne Migrationshintergrund. Es gibt also ständig neue Aufgaben. Auch im Ruhestand.
Mit einem in der Politik inzwischen üblichen „Wumms“ startet die Bundesregierung eine „Engagementstrategie“ und bringt mit einer zentralen Stiftung das Engagement der Bürger unter ihre Fittiche. Der Adler breitet eben seine Flügel aus. In seinem Schatten werden die Bedingungen für die Möglichkeit einer ehrenamtlichen Strategie so professionalisiert, dass nur noch digital und organisatorisch spezialisierte Einrichtungen, also mehr oder weniger große Einrichtungen mit einem Verwaltungsapparat, der mit den Anforderungen der Beantragung, der Verwaltung und Abrechnung zurechtkommt, die Förderung in Anspruch nehmen können.
Für die neue Ehrenamtsstrategie hat die zuständige Familienministerin einen „Beteiligungsprozess“ eröffnet. Interessierte können sich einbringen und weitere Beteiligungsformate sind geplant. Zwar soll die Strategie gemeinsam mit der „Zivilgesellschaft“ entwickelt werden, doch die staatliche Instanz setzt Beginn, Rahmen und Ende der Beteiligung fest. Diese „Formalitäten“ zeigen, dass „Gesellschaft“ unter den staatlichen „Schutzschirm“ genommen wird.
Neben der explizit politischen Kontrolle, die in diffusen allgemeinen “Geschäftsbedingungen“ untergebracht ist, führen die administrativen Vorgaben im einzelnen Genehmigungsverfahren dazu, dass Graswurzelaktivitäten, eigenständige, kritische und vor allem widerständige Initiativen von der Förderung praktisch ausgeschlossen sind. Der Staat beherrscht zunehmend die Zivilgesellschaft. Diese hat sich immer von „unten“ erneuert und dann auch staatliche Aktivitäten bereichert. Vielleicht findet dies auch jetzt wieder statt, freilich immer schon wohl behütet.
Begrifflich ist das „Bürgerschaftliche Engagement“ hinter das „Ehrenamt“ zurückgetreten. Doch ist die Unterscheidung wichtig. Denn das Ehrenamt hat eine lange Tradition, durchaus in den Staatsaufbau bzw. die kommunale Selbstverwaltung integriert. So ist das Ehrenamt in § 18 der Gemeindeordnung Rheinland-Pfalz fest eingeplant. Und wie wichtig es ist, zeigt sich daran, dass bis vor einiger Zeit 70% der Bevölkerung in Gemeinden lebten, in denen nur die Freiwillige Feuerwehr, ein Ehrenamt, für Sicherheit in Brandfällen und bei anderen Katastrophen sorgen sollte. Und die Gemeinden kämen ohne „das Ehrenamt des Bürgermeisters, der Beigeordneten, der Ortsvorsteher, der Ratsmitglieder, der Mitglieder von Ausschüssen des Gemeinderats, der Mitglieder des Beirats für Migration und Integration und der Mitglieder der Ortsbeiräte“ (so die Gemeindeordnung) nicht mehr zurecht. Das Ehrenamt in dieser Tradition ist konstitutiv für Sicherheit und Demokratie.
Das Bürgerschaftliche Engagement hat auch eine lange Tradition, z.B. in großen Verbänden und Organisationen oder in der Krankenhilfe – ganz abgesehen von dem mitmenschlichen Engagement in allen Situationen und zu allen Zeiten. Heute ist das Bürgerschaftliche Engagement insbesondere von den Bewegungen seit den 1970er Jahren geprägt, in denen die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des selbstbestimmten Tuns im Vordergrund stand. Das bürgerschaftliche Engagement ist konstitutiv für das Freiheitsverständnis des Bürgers, ohne das die Demokratie ihr Fundament verliert. Gleichzeitig gibt es einen ständigen Übergang vom Engagement zum Ehrenamt, indem spontane Hilfsbereitschaften und unterstützende Aktivitäten fest in den Ablauf von Organisationen eingeordnet und eingeplant werden. Sie bereichern das Aktivitätsspektrum der Organisation um „humane“, „echte“, „uneigennützige“, „persönliche“ Handlungsweisen.
Aktuelles Beispiel
Die Allgemeine Zeitung Mainz vom 6. Oktober 2023 berichtet beispielsweise über eine Suche der Mainzer Kliniken. Unter der Überschrift „Kliniken suchen Ehrenamtliche: Anmeldung“ heißt es u.a.: „Die Palette der ehrenamtlichen Tätigkeiten ist breit. Sie reicht von Hol- und Bringdiensten, Mitarbeit bei Veranstaltungen und Anreichen von Mahlzeiten über Spaziergänge, Vorlesen und Zuhören bis zu unterstützenden pflegerischen Hilfsdiensten oder Sitzwache bei unruhigen oder sterbenden Menschen. Auch der Kontakt zu den Angehörigen gehöre dazu.“ Während in diesem Zeitungstext die „pflegerischen Hilfsdienste“ erwähnt werden, ist auf der jeweiligen Homepage von Universitätsmedizin und Marienhaus Klinikum bei den sogenannten „Grünen Damen und Herren“ von dieser Tätigkeit nichts zu lesen. Der Zeitungstext demonstriert ungeschützt den Übergang vom Ehrenamt zur beruflich zu erbringenden, organisationsnotwendigen Tätigkeit zur Erfüllung eines zentralen Organisationszwecks.
Diese Problematik wird – bereichsspezifisch – als Frage der „Fachkraftquote“ diskutiert. Neben dem generellen Mangel an Personal für die vorhandenen Planstellen („Pflegeelend“) werden Modelle entwickelt, wie ausgebildete Fachkräfte ersetzt werden können durch weniger ausgebildetes Personal. Die Dynamik der Entwertung der Pflegeberufe aus rein fiskalischen bzw. ökonomischen Gründen wird durch die „Professionalisierung“ der ehrenamtlichen Tätigkeiten verstärkt. Der bei der Suche nach Ehrenamtlichen angebotene „Vorbereitungskurs“ erscheint pragmatisch als notwendig, vermittelt aber nur das gute Gefühl von Kompetenz. Die menschliche Zuwendung dagegen bleibt unverfügbar.
Von ihr werden auch die beruflich tätigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen suspendiert. Denn sie können angesichts ihrer regelmäßigen Überlastung auf die Tätigkeit der Ehrenamtlichen verweisen. Eine Folge ist die Reduktion der professionellen Tätigkeit auf funktional notwendige Abläufe und Prozesse. Der Pflegenotstand wird durch den Einsatz der Ehrenamtlichen kaschiert. Diese Funktion steht im krassen Gegensatz zu dem Selbstverständnis der Ehrenamtlichen, die ihre Tätigkeit als Bereicherung und nicht als Lückenbüßen verstehen. In der theoretischen Betrachtung tritt die funktionalistische Perspektive in Gegensatz zum praktisch-humanistischen Selbstverständnis. Die berufliche Tätigkeit wird jedenfalls de-professionalisiert, weil sie um die Vermittlung allgemeinen Wissens mit der Individualität des „Klienten“ gebracht wird. Dass viele beruflich Tätige und Engagierte sich dennoch um diese Vermittlung unter ungünstigen Bedingungen bemühen, macht einen Teil ihrer Belastung aus.
Flüchtlingshilfe
Bei der Unterstützung geflüchteter Menschen steht neben der staatsfinanzierten und wohlfahrtsverbandlich bzw. kommunal organisierten Hilfe das bürgerschaftliche Engagement im Vordergrund, das sich durch politisch-parteiliche und altruistische Motive am Leben erhält. „Ehrenamtlichkeit“ hat sich dabei in recht unterschiedlichen Formen entwickelt. Bei den spontanen Hilfen für syrische Flüchtlinge in den Jahren 2015/16 hat sich bürgerschaftliches Engagement in einer ursprünglichen Bewegung entfaltet. Es ging um situative Reaktionen und Probleme, die mit Hilfe alltäglicher Kompetenzen und aus den Kleiderschränken heraus bewältigt werden konnten. Danach sind diese Formen vereinzelt und werden vor allem von engagierten Personen, individuell mit gelegentlicher organisatorischer Absicherung, dauerhaft durchgehalten.
Andere Initiativen haben sich als eingetragener Verein organisiert und können in dieser Weise Nachhaltigkeit sichern. Von diesen Vereinen wird zum Teil ausschließlich unbezahlte Arbeit geleistet, teilweise werden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eingestellt und aus unterschiedlichen Geldquellen finanziell abgesichert. Der Verein wird aber weiterhin ehrenamtlich geleitet. Bei dieser Form haben sich erstaunliche Maße von Professionalität und Nachhaltigkeit entwickelt, so dass solche Vereine als Organisationen der soziapolitischen Infrastruktur, insbesondere für die lokale und regionale Ebene, betrachtet werden können.
Zu diesem letzten Organisationstyp mit fest, d.h. maximal für ein Jahr und im Arbeitszeitvolumen von nicht mehr als einer halben BAT-Stelle, angestellten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gehört die ÖFO. Um diesen Organisationstyp herum bleibt teilweise das Engagement der „Bewegungszeit“ erhalten, häufig schließen sich aber auch Engagierte solchen Organisationen an. Auch dies ist bei der ÖFO der Fall. Dabei wird ihr eingespieltes Tätigkeitsfeld von Interessenten genutzt, sich eine für sie gewünschte Tätigkeit auszusuchen und die Erfahrungen der ÖFO als Rahmen der Unterstützung bei der engagierten Tätigkeit nutzen zu können. Da es sich aber trotz der Etablierung um ein Projekt handelt, haben Engagierte die Chance, eigene Schwerpunkte zu setzen. Dies gilt auch für die Studierenden, die bei der ÖFO ihr Praktikum absolvieren.
Die Flüchtlingshilfe wird darüber hinaus getragen von Religionsgemeinschaften und Vereinen, zum Beispiel im Bereich Sport, die ihren Organisationszweck ausdrücklich um die Aufgabe „Flüchtlingshilfe“ erweitern. Sie hängt dann in starker Weise von den Hauptamtlichen der Gemeinden oder der Vereine ab. Schließlich werben die Wohlfahrtsverbände, die im sozialpolitischen System in Deutschland einen besonderen Stellenwert haben und privilegiert sind („Korporatismus“), Ehrenamtliche an und beanspruchen, deren Einsatz anzuleiten und fachlich abzusichern.
Die Organisationsform hängt nicht direkt mit der Frage zusammen, um welche Aufgaben es sich bei der Flüchtlingshilfe handelt. Insgesamt handelt es sich dabei nämlich um eine gesamtgesellschaftliche und staatlich zu gewährleistende Aufgabe, weil es um die Befähigung, sprachliche und berufliche und soziale Integration der geflüchteten Menschen geht. Dies ergibt sich aus der Verfassung. Deshalb ist die staatliche Förderung der Flüchtlingshilfe, in welcher Form auch immer, eine Aufgabe, die sich aus den Vorgaben der Verfassung ergibt. In erheblichem Umfang werden in der Flüchtlingshilfe staatliche Aufgaben abgearbeitet. Daraus ergibt sich auch eine besondere Qualität der Arbeit, die, zumindest teilweise, relativ frei von bürokratischen Vorgaben von humanistischen und altruistischen Motiven ermöglicht wird.
Aber die Freiheit gibt es nur auf den ersten Blick oder bei den ganz frei schwebenden Initiativen. Welches „Dach“ ist dann für die Flüchtlingshilfe gut? Welche Vorteile und welche Belastungen ergeben sich bei den verschiedenen Formen?
Wie sieht das konkret bei der „Ökumenischen Flüchtlingshilfe Oberstadt e.V.“ aus? Die ehrenamtliche Leitung des Vereins, der praktisch einen Kleinbetrieb eingerichtet hat, ist eine starke Herausforderung. Staatliche Mittel werden grundsätzlich nur für einen bestimmten Zeitraum und für einen eng umrissenen Zweck zur Verfügung gestellt. Sie zu beantragen, die Verwendung zu kontrollieren, abzurechnen und die dafür erforderliche Organisation sicherzustellen, erfordert die selbe Kompetenz und den selben Zeitaufwand wie für die Geschäftsführung einer vergleichbar großen Institution. Da die Aufgaben von, in der Regel teilzeitig und befristet, beschäftigtem Personal bearbeitet werden, fallen die gesamten Aufgaben des Personalwesens an. Die Einwerbung von Spenden, öffentliche Präsentation und Konzeptentwicklung kommen hinzu, die Mitglieder des Vereins müssen „verwaltet“ werden. Mit dieser ehrenamtlichen Tätigkeit werden umfangreiche Aufgaben der Flüchtlingshilfe professionell bearbeitet.
Aus dieser Erfahrung, aber auch aus systematischen Argumenten der Sozialen Arbeit ergibt sich ein kritischer Blick auf die von Organisationen geleistete Mobilisierung von ehrenamtlichem Engagement. Dabei wird in der Regel der Klientenkontakt den Ehrenamtlichen in erheblichem, wenn nicht gänzlichem Umfang übergeben. Damit spielt sich in diesem Kontakt alles ab, was die Flüchtlingsarbeit auch gefährden kann, nämlich das Potential der ethnozentrischen Zuschreibungen und Blockierungen. Hinter den bewussten Motivationen ethischer Selbstbeschreibung kann sich die Komplementarität von herablassender Zuschreibung von Hilfsbedürftigkeit und geglaubter kultureller Überlegenheit entfalten. Dies ist grundsätzlich auch bei beruflich Handelnden zu erwarten, aber die berufliche Tätigkeit steht ebenso grundsätzlich unter dem Anspruch kritischer Selbstreflexion und Selbstkontrolle.
Politisch und öffentlich wird das Ehrenamt so umfassend gelobt und gepriesen, dass Skepsis angebracht ist gegenüber eine Ehrenamtsstrategie, wenn dabei eine eigene Professionalität des Ehrenamtes nicht gesichert werden kann. Reflektierter Altruismus, der die praktizierte Selbsthilfe des Engagierten kennt und anerkennt, und den sozialen Sinn der Tätigkeit mit allen, mit denen er zu tun hat, austauschen kann, ist dazu in der Lage. Dazu gehört Förderung, die diesen Namen verdient, und nicht staatliche Rahmensetzung.
Für einen einigermaßen vollständigen Blick auf das gesamte Feld der Arbeit mit geflüchteten Menschen ist es nun aber noch notwendig, die Flüchtlingsräte, die Arbeitskreise und Initiativen zu benennen, die sich als politische Anwälte der Geflüchteten verstehen und sich politisch und praktisch-unterstützend für Geflüchtete einsetzen. Diese Tätigkeit des bürgerschaftlichen Engagements ist direkt mit Demokratiebewegungen verbunden und setzt sich für Benachteiligte, für Verfolgte und Entrechtete ein. Ihre Arbeit ist oft wirklich nachhaltig, so hat der Flüchtlingsrat Mainz sein 33-jähriges Bestehen gefeiert. Dabei geht es eben nicht einfach um ein „Ehrenamt“, obwohl diesen Engagierten in besonderer Weise Ehre und Respekt gebührt. Vielmehr geht es um eine politische Tätigkeit, die sich mit praktischer Hilfe und Unterstützung verbindet. Ihre Parteilichkeit ist unverzichtbar.
Im Feld der Praxis gibt es Überschneidungen, Mischformen, Hybride, Beziehungen, Kooperationen, Konkurrenzen, kurz: alles was so zum Leben gehört. Dort geht es nicht mehr um Definitionen und Abgrenzungen, sondern um Wirkungen als Beiträge zu einem guten Zusammenleben.