Veränderung der Religionslandschaft durch Migration - Beobachtungen in Mainz
- Bruno Hoffmann
- 3. Apr.
- 15 Min. Lesezeit

Im Nachgang zum Abendgespräch „Migration und Religion“ hat Franz Hamburger den Gedankengang des Gesprächs und das Wissen über Religion in der postmigrantischen Gesellschaft in Mainz weiterbearbeitet. Es zeigt sich, dass auch in religiöser Hinsicht die Wirklichkeit in unserer Stadt ebenso von Vielfalt geprägt ist wie in typischen Einwanderungsgesellschaften. In einer amerikanischen Stadt beispielsweise findet man die Kirchen, Gebets- und Gotteshäuser von mindestens einem Dutzend Religionsgemeinschaften. Über diesen Wandel sich zu informieren, die Realität der Vielfalt anzunehmen und nicht weiter abwehren und verdrängen zu wollen – das ist die Aufgabe heute und eines jeden.
Dem aufmerksamen Zuschauer von Fußballspielen oder ihrer Fernsehübertragung fällt gelegentlich etwas Besonderes auf: Beim Betreten des Spielfelds oder nach einem Torerfolg bekreuzigen sich manche Spieler oder praktizieren eine andere religiöse Geste. Bei diesen Spielern handelt es sich in der Regel um Spieler „mit Migrationshintergrund“ – wie man so sagt. Die Hautfarbe dient dabei immer noch als Erkennungszeichen. Versucht man die Hintergründe für das religionsbezogene Handeln zu klären, findet man in der „Sportliteratur“ wenig Hinweise. Aber der Zusammenhang von Migration und Religion begegnet einem auch in anderen Kontexten. So ist er in der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen alltäglich erlebbar.
Die „Ökumenische Flüchtlingshilfe Oberstadt e.V.“ (ÖFO) hat in einem ihrer „Abendgespräche“ diesen Zusammenhang thematisiert. Vertreter von Gemeinden, zu denen Geflüchtete und andere Migranten gehören, waren eingeladen und sprachen über ihre Erfahrungen. Im Vordergrund des Abendgesprächs stand die Frage, wie Flucht und Migration die Praxis konkreter Gemeinden in Mainz beeinflussen. Deshalb haben zwei Vertreterinnen über ihre Erfahrungen berichtet. Darüber hinaus hat Miguel Vicente, Beauftragter der Landesregierung für Migration und Integration (BLMI), die gegenwärtigen Verhandlungen zum Religionsunterricht in den grundgesetzlichen Rahmen in Deutschland eingeordnet. Die Kooperation von Staat und Gesellschaft und Religionsgemeinschaften ist gerade bei diesem Thema bedeutsam und fruchtbar.
Leonarda Usela, Gemeinderatsvorsitzende der Spanischsprachigen Katholischen Gemeinde Mainz (Comunidad Católica de Lengua Española de Mainz), berichtete über die Entwicklung dieser Gemeinde, die schon seit der Gastarbeiterära existiert und vielfachen Wandel erfahren hat. Sie hat sich immer wieder erneuert. Heute werden die Angebote der Gemeinde auch von Zuwanderern und Flüchtlingen aus Lateinamerika genutzt, ebenso sind die Kinder und Enkel der spanischen Gastarbeiter in der Gemeinde dabei. Neben den Gottesdiensten und religiösen Veranstaltungen ist die Gemeinde ein zentraler Ansprechpartner für Neuankömmlinge aus der spanischsprachigen Welt. Einer Organisation der gleichen Sprache und religiösen Zugehörigkeit schenken die meisten Ankömmlinge Vertrauen.
Dies gilt auch für die Jüdische Gemeinde in Mainz. Joanna Wroblewska-Nell, Mitglied im Vorstand der „Jüdischen Kultusgemeinde Mainz Rheinhessen“, konnte über viele Gespräche zur Information und zur Orientierung in Deutschland berichten. Die Gemeinde ist durch Zuwanderung, insbesondere aus der Sowjetunion/Russland, vertraut mit den Fragen der Rolle der Religion vor und nach der Auswanderung. Zu ganz unterschiedlichen Zeiten kamen und kommen Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion und aus dem heutigen Russland. Ihre Erfahrungen sind höchst verschieden, ihre Erwartungen und ihr Verständnis des Judentums ebenso. Daraus ergeben sich immer wieder konfliktreiche Gespräche. Die Gemeinde hat die Kraft entwickelt, den Integrationsprozess zu fördern und die Erfahrungen in der Gesellschaft aufzuarbeiten. So ist auch die Aufarbeitung antisemitischer Verletzungen eine Aufgabe der Gemeinde.
Mit den Beiträgen von Miguel Vicente konnte die Betrachtungsperspektive erweitert werden. „Neue“ Religionen müssen sich hier in Deutschland neu definieren, ihren Standort festlegen und sich in die Religionsordnung der Republik einordnen. Dies gilt besonders für den Islam. „Der Islam gehört zu Deutschland“ – diese Formulierung eines Bundespräsidenten hat auf einen tiefgreifenden Wandel der deutschen Gesellschaft aufmerksam gemacht. Dieser Wandel hat aber nicht erst mit der Einwanderung von Menschen aus islamischen Ländern begonnen. Nur die Kooperation und wechselseitige Achtung ermöglichen ein friedliches Nebeneinander und ein konstruktives Miteinander. Deshalb bemüht sich der Integrationsbeauftragte beispielsweise um einvernehmliche Regelungen zum Religionsunterricht.
Vielfalt ist die neue Realität
Migration ist ein Merkmal menschlicher Gesellschaften. Sie kann gelegentlich für eine kurze Phase stillgestellt werden – um dann wieder intensiv einzusetzen. Mit der Berliner Mauer haben wir eine solche Erfahrung gemacht. Ein- und Auswanderung sind dabei gleichermaßen gegeben. Im Blick von der Gesellschaft her, die Migranten aufnimmt, wird oft nur die Einwanderung gesehen. Das ist in Deutschland seit vielen Jahren der Fall. Aber es gibt immer beides zugleich, und über einige Jahre war die Auswanderung umfangreicher als die Einwanderung. Eine Politik, die nur die Einwanderung verhindern will, übersieht Möglichkeiten, auch Auswanderung für die Migranten erträglich zu gestalten. Im Zeitalter der Gastarbeiter sind 14 Millionen Menschen eingewandert und 11 Millionen ausgewandert. Wären die drei Millionen nicht geblieben, wäre Deutschland um vielleicht 10 Millionen Menschen ärmer. Die Auswirkungen wären katastrophal.
Mit den Gastarbeitern (und Gastarbeiterinnen und mit ihren Familien) sind bereits schon neue Religionen ins Land gekommen. Die ältesten Moscheen stammen aus dieser Zeit, ebenso die orthodoxen Kirchen und die katholischen Gemeinden „anderer“ Muttersprache, wie sie in ethnozentrischer Selbstverständlichkeit genannt wurden. Der Beirat von Katholiken anderer Muttersprache im Bistum Mainz vertritt sie, er repräsentiert 25% aller Katholiken in der Diözese Mainz. Sie sind in 24 Gemeinden organisiert. Mögen sie auch unter dem „katholischen Dach“ vereint sein, so kann ihre religiöse und spirituelle Praxis recht eigensinnig sein – wie die der einheimischen Gemeinden auch.
An solchen Daten wird der Umfang der neuen Vielfalt ersichtlich. Jede Einwanderungsgeneration und -gruppe hat auch neue Religionen ins Land gebracht. Mit den 350 000 Studierenden kommen vor allem Religionen aus China und Indien nach Deutschland, mit den (Spät-) Aussiedlern aus Russland (vermeintlich vertraute) Christen und Juden, mit den Flüchtlingen werden die schon anwesenden Weltreligionen um weitere Spielarten bereichert und neue, teilweise archaische Religionen kommen hinzu. Das spiegelt sich dann in der Gesamtstatistik von Religionsgemeinschaften in Deutschland.
Zwar ist die Gruppe der Konfessionslosen die größte Glaubensgemeinschaft in Deutschland (44% der Bevölkerung), aber die Katholiken bilden mit knapp 25% zusammen mit den evangelischen Kirchen der EKD (22%) die etwas größere Gruppe der Christen. Insgesamt gehören 47% der Deutschen einer der beiden großen Kirchen in Deutschland an. Zählt man Orthodoxe und Mitglieder anderer christlicher Gemeinschaften dazu, lag der Anteil der Christen 2022 bei 51 %. Die Zahl der Muslime mit Migrationshintergrund wurde für das Jahr 2019 zwischen 5,3 und 5,6 Mio. geschätzt, was 6,3 bis 6,7 % der Gesamtbevölkerung entspricht – so die Daten verschiedener Untersuchungen. Der Anteil der konfessionsgebundenen Muslime wird auf 3,5 % der Bevölkerung geschätzt. Alle anderen Religionsgemeinschaften zusammen stellten knapp 1 % der Bevölkerung in Deutschland. Davon sind 270.000 Buddhisten, 200.000 Juden, 100.000 Hindus, 200.000 Jesiden, 90.000 Heiden, 10.000 bis 20.000 Sikhs und 6.000 bis 12.000 Bahai – so die Übersicht bei wikipedia. (siehe auch den „Beitrag Migration und Religion – ein vielschichtiger Zusammenhang“ in der Leseecke der Homepage).
Mit den kleineren Religionsgemeinschaften wird die Vielfalt erst richtig sichtbar. Und diese Gruppen werden wachsen, denn die Zuwanderung aus Asien ist die jüngste Bewegung in der Einwanderung. Die Forschungseinrichtungen zur Religion zählen etwa 120 Religionsgemeinschaften in Deutschland. Viele sind schon länger mit kleinen Gruppen in Deutschland zuhause und wachsen durch die Migration. Andere entstehen durch die Migration und stellen Neugründungen dar. Viele sind durch Zensus und Forschung noch gar nicht erfasst. Hinzu kommt, dass viele quasi-privat gegründet werden und dann in eine sozial relevante Größe wachsen. Der „Internationale Konvent christlicher Gemeinden in Berlin und Brandenburg e.V.“ allein spricht von 100 Gemeinden in Berlin. Sie seien gerade gegründet worden oder existierten seit 100 Jahren.
Während sich die Aufmerksamkeit vor allem auf den Schwund der großen christlichen Kirchen und das vermutete Wachstum des Islam richtet, entstehen neue Gemeinschaften. Man kann diese Dynamik in der Feststellung zusammenfassen: Stündlich gibt es Austritte aus den Kirchen, täglich wird eine neue Religionsgemeinschaft gegründet.
Verwirrende Vielfalt und Desintegration?
Eine der auf Vielfalt und Religionszugehörigkeit bezogenen typischen Vermutungen ist die Annahme, dass dadurch Integration verhindert und Segregation gefördert werde. Das ziemlich einheitliche Bild der Forschung beweist das Gegenteil. Das vorherrschende Vorurteil beruht auf der Annahme, dass religiös gebundene Personen weniger „integriert“ seien als religiös ungebundene Personen. Entsprechend resultiert aus der „modernen“ Ansicht, dass religiöse Bindung die konservative Gemeinschaftsbildung fördere und die Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft einschränke.
Zum anderen resultiert das Vorurteil aus dem Missverständnis von „Integration“. Denn üblicherweise ist von Integration dann die Rede, wenn es um die Teilhabe oder Nicht-Teilhabe von Migranten geht. Aber Integration ist eine anthropologische Grundlage des Lebens, die alle Beziehungen einer Gesellschaft mit oder ohne Migration betrifft. Prozesse und Strukturen der Stabilität und Dynamik, der Nähe und der Distanz von allen Personen und Organisationen lassen sich mit dem Begriff beschreiben. Wenn er auf Zuwanderung bezogen wird, ist er nationalistisch eingefärbt, insofern nur die Beziehungen zwischen Einheimischen und Zugewanderten und zudem das Verhältnis der Eingewanderten zu den Einheimischen aus der Sicht der Einheimischen allein gemeint ist. Integration wird also fast immer nur als das Handeln der Zugewanderten begriffen und zudem als von ihnen zu erbringende Leistung eingefordert.
Integriert sein muss aber jedes Individuum. Und religiöse Gemeinschaften sind ein zentrales Medium für die Integration und die Stabilität der Einzelnen. Beim Wechsel der Zugehörigkeit zur Gesellschaft durch Migration ist dies besonders wichtig. Religiöse Gemeinschaften bieten dem Migranten einen verlässlichen Ausgangspunkt für die Entfaltung seiner weiteren Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Im Bild gesprochen: Von einem stabilen Ausgangspunkt aus bewegt er sich in die neue Gesellschaft und entscheidet über seine weiteren Zugehörigkeiten, soweit sie ihm Staat und Gesellschaft zulassen. Genau diese Funktion wurde bei der Veranstaltung der ÖFO von vielen Berichten bestätigt. Und das ist auch das übereinstimmende Ergebnis der Forschung.
Einen guten Rahmen für solche Entwicklungen bietet auch unsere Verfassung. Sie bestimmt die Religionsfreiheit als Grundrecht. Die individuelle Freiheit zur Ausübung einer Religion ist unmissverständlich fundiert, sie schließt die Selbstorganisation zur Religionsausübung ein. Eine Besonderheit ist der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Die aus der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz übernommenen Bestimmungen stellen Regulierungen für Konflikte bereit, die bis dahin in der deutschen Geschichte wirksam waren. Diese Bestimmungen sind aber auch als Orientierungen geeignet für die Schlichtung heutiger Konflikte. Die Verfassung bindet den Einzelnen und die Religionsgemeinschaften in die demokratische Gesellschaft ein.
Vielfalt in Mainz
Die Veranstaltung im „Interkulturellen Bildungs- und Begegnungszentrum Oberstadt“ der ÖFO konnte nur einen ganz schmalen Ausschnitt der religionsbezogenen Vielfalt in Mainz aufgreifen. Schon die vielfältigen Einrichtungen des Islam waren nicht vertreten; für sie ist eine eigene Veranstaltung geplant. Mit einer Recherche auf den Homepages von Kirchen und Gemeinden in Mainz ist ein erster Überblick über das religiöse Leben, genauer: seiner Organisation möglich.
Islamische Moscheen und Gemeinden haben sich im Arbeitskreis Mainzer Muslime zusammengeschlossen. Dabei sind 11 Gemeinden vertreten, die überwiegend als eingetragene Vereine eine Rechtsform gefunden haben. Ihre Orientierungen sind verschieden je nach Zugehörigkeit zu den großen Strömungen des Islam und regionaler Herkunft. Das Spektrum reicht vom Arab Nil-Rhein Verein e.V. mit der Al Nur Moschee bis hin zur Marokkanischen Gemeinde Mainz e.V. mit der At-Tauba Moschee. Der Islam ist in Mainz ebenso einheitlich und differenziert wie andere Religionsgemeinschaften, besonders die großen Kirchen.
Für den Islam selbst ist die Unterschiedlichkeit der „Konfessionen“ und die politischen Verwerfungen der islamisch geprägten Heimatländer sicherlich ein Problem. Aber in Deutschland ist der antimuslimische Rassismus die zentrale Belastung. Das zeigte sich auch in der Auseinandersetzung um einen muslimischen Kindergarten in Mainz. Die Auflagen der Jugendhilfe waren repressiv, die Auseinandersetzung voller Anwürfe und Beschuldigungen. Als der Kindergarten mit Schweineblut beschmiert wurde, gab es keine ernsthaften Sanktionen für die Täter. Am Beispiel dieses Vorgangs, und an den Ereignissen in anderen Städten um Kindergärten und Moscheen, zeigt sich, dass das Gleichheitsgebot der Verfassung nicht konsequent realisiert wird.
Der Katholizismus präsentiert sich in Mainz in überraschender Vielfalt. Die „Comunità Cattolica Italiana Mainz“ zeigt schon auf ihrer Homepage ihre eigenständige Kultur des religiösen Ausdrucks, wie er bei einer einheimischen katholischen Kirche kaum zu finden ist. Die Kroatische Katholische Gemeinde (Hrvatska katolička zajednica Mainz) wählt die Monstranz als Blickfang auf ihrer Homepage. Die Spanischsprachige Katholische Gemeinde Mainz (Comunidad Católica de Lengua Española de Mainz) eröffnet ihre Homepage mit einem Blick in die weihnachtlich geschmückte Kirche. Die Portugiesisch sprechende Katholische Gemeinde Mainz (Comunidade Católica de Língua Portuguesa em Mainz) legt besonderen Wert auf Kinderkatechese und Jugendarbeit. Die Polnisch sprechende Gemeinde in Mainz, Polska Misja Katolicka Mainz, stellt sich mit dem prächtigen Bild einer barock geschmückten Kirche vor.
Die Rumänische Griechisch-Katholische Gemeinde im Byzanthischen Ritus ist zuständig für die Bistümer Freiburg, Limburg, Mainz, Rottenburg-Stuttgart und Speyer und wird von Mainz aus geleitet. Auch die Chaldäische Katholische Gemeinde existiert als Gemeinde für die Bistümer Limburg und Mainz und ist in Mombach zuhause (dazu später mehr). Die Ukrainische Griechisch-Katholische Seelsorge (Byzanthischer Ritus) ist noch neu in Mainz und im Bistum Mainz, wird sich aber angesichts der ukrainischen Zuwanderung verstärken.
Neben den Gemeinden, die sich durchgehend nur in ihrer Muttersprache (außer der spanischsprachigen Gemeinde) vorstellen, gibt es in der Diözese Mainz Gottesdienste in weiteren Sprachen, so in eritreischer und in slowenischer Sprache, nach dem Syro-malabarischen Ritus sowie in ungarischer Sprache. Diese Gemeinden und Angebote werden vom Bistum unter die Fittische genommen und unterstützt, aber sie bleiben eigenständig. Sie pflegen einen eigenen Stil der Religiosität und haben in der Regel mit den umgebenden katholischen Gemeinden bestenfalls formale Beziehungen. An einem Tag im Jahr, nämlich beim Festgottesdienst zum Interkulturellen Fest, kommen sie zusammen und erinnern an ihre Gemeinsamkeit. Doch die Eigenständigkeit dominiert. Sie integrieren ihre Gläubigen und sind als Organisation Teil von Einwanderungsdeutschland.
Die Evangelische Kirche in Mainz stellt sich programmatisch mit ihrer demokratischen Struktur vor: „Die Dekanatssynode Mainz ist das regionale Kirchenparlament der Evangelischen Gemeinden und Einrichtungen in und um Mainz.“ 18 Gemeinden mit circa 50 Pfarrer*innen, 500 haupt- und nebenamtlichen Mitarbeitenden sowie über 1000 ehrenamtlich Engagierten bilden die Basis des Dekanats. Vielfalt kommt im evangelischen Bereich durch die Evangelische Allianz Mainz mit 17 verschiedensten evangelischen Kirchen und Gemeinden, Gruppen und Organisationen ins Spiel. Ihnen gehören Migranten an, auch wenn sie nicht so engagiert angesprochen werden wie in der Adventsgemeinde. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Mainz ist eine Gemeinschaft von Kirchen und Gemeinden, der auch orthodoxe Gemeinden angehören.
Die Orthodoxie präsentiert sich, wie bei der Gemeinde des Heiligen Christophorus mit ihrer Gemeinsamkeit und mit ihrer Vielfalt: „So gliedert sich die orthodoxe Kirche bis heute in eine Fülle von örtlichen Kirchen mit je eigenem Gesicht, entsprechend den Notwendigkeiten und Umständen ihres Landes und der heimatlichen Kultur.“ Die Gemeinde des Hl. Christophorus feiert ihre Gottesdienste in der Berliner Siedlung.
Die „Kirche Heiliger Nikolaus“ ist eine mazedonisch-orthodoxe Kirche in Hechtsheim. Das Gebäude ist im byzantinischen Stil errichtet und setzt so einen eigenen Akzent in der Landschaft der Mainzer Kirchen. Die Gemeinde wurde von mazedonischen Gastarbeitern 1989 gegründet. Die „St. Kyrillos Koptisch-orthodoxe Kirche Mainz“ hat ihren Sitz in den ehemaligen Räumlichkeiten des früheren Gemeindezentrums Heilig Geist der katholischen Kirche in Mainz-Mombach. Sie berichtet mit anschaulichen Videos von ihren Gottesdiensten.
Eine andere Quelle, um eine Vorstellung des religiösen Lebens mit Akzent auf der Migration zu gewinnen, ist das Mainzer Vereinsverzeichnis. Unter den 1000 Vereinen in Mainz gibt es eine Kategorie „Religion und Politik“. Dort finden sich weitere Einrichtungen, wie die Armenische Gemeinde e.V., der Geistige Rat der Bahá'í in Mainz e.V., die Griechische Gemeinde in Mainz und Umgebung e.V., die Kongregation der Schulschwestern (Franziskanerinnen von Christus dem König, Bosnisch-Kroatische Provinz von Sarajewo in Mainz e.V.), die Alevitische Gemeinde Mainz e.V., die Jakob-Israel Gemeinde (gehört der Kirche Christi im Kongo an), der Verein Säkularer Islam e.V. und viele andere Vereine mit religiösem Selbstverständnis, bei denen der Migrationsbezug nicht deutlich wird, aber zu vermuten ist.
Beispiel Berliner Viertel
Die Situation in Mainz kann in diesem Beitrag nur sehr unvollständig beschrieben werden. Der Blick auf einzelne Stadtteile kann noch mehr Einsichten vermitteln. In der kleinen „Berliner Siedlung“ beispielsweise mit einem hohen Anteil an eingewanderten Bewohnern gibt es drei Kirchen: die katholische St. Jakobuskirche, die evangelische Thomaskirche und die Kirchengemeinde Mainz Chung-Ang e.V. Doch es gibt mehr.
Die St. Jakobuskirche selbst gehört zur Pfarrgruppe der katholischen Kirchen in der Oberstadt. Ihre Praxis wird in enger Kooperation mit den anderen Kirchen, besonders der Kirche St. Alban geregelt. Mit ihr hat sie auch einen gemeinsamen Verwaltungsrat. Im Rahmen der Neuordnung der pastoralen Strukturen werden noch mehr übergeordnete Institutionen die Verantwortung der früheren Pfarreien übernehmen. Diese Entwicklung mit reduziertem Angebot und geringerer Teilnahme ist typisch für das kleiner Werden der Großkirchen.
Im Souterrain der Kirche St. Jakobus arbeitet die Ökumenische Flüchtlingshilfe Oberstadt e.V., die aus den christlichen Kirchen der Oberstadt hervorgegangen ist. Sie hat dort ein „Interkulturelles Bildungs- und Begegnungszentrum Oberstadt“ eingerichtet, und täglich kommen Flüchtlinge und andere Migranten aus der ganzen Welt und aus den verschiedensten Religionen in den Keller dieser katholischen Kirche. Im April 2023 organisierte die „Eine-Welt-Fachpromotorin“ im Bereich „Migration und entwicklungspolitische Bildung“ mit Ehrenamtlichen der Ökumenischen Flüchtlingshilfe ein Fastenessen im Rahmen der Aktion „GreenIftar“. Im Ramadan, dem Fastenmonat der Muslime, veranstaltet der Verein NourEnergy e.V. solche Fastenessen mit ökologischer Thematik. Und die „Adventgemeinde Mainz“ als Ortsgemeinde der „Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Rheinland-Pfalz“ war am Aufbau und der Arbeit der Ökumenischen Flüchtlingshilfe engagiert beteiligt. Sie ist in der Oberstadt an anderer Stelle beheimatet.
In der St. Jakobuskirche hält die „Orthodoxe Gemeinde Hl Christophorus Mainz“ ihren Gottesdienst. Einmal in der Woche treffen sich aus Russland und der Ukraine stammende Gläubige zu einem Gottesdienst mit einem Priester, der zu diesem Zweck nach Mainz anreist. Bei der Gemeinde handelt es sich um eine Gründung von Menschen, die aus der Sowjetunion in den Westen geflohen sind. Die Gemeinde ordnet sich dem Moskauer Patriarchat zu, ist aber wie andere Gemeinden im Westen völlig selbständig.
Auch die Evangelische Thomaskirche ist in neue Strukturen überführt worden. Am 1. Januar 2024 wurde die ein Jahr alte "Evangelische Gemeinde in der Oberstadt Mainz" größer: Die bisherige Luthergemeinde, Melanchthon und die Thomaskirche vereinen sich zu einer neuen Gemeinde, die nun den gesamten Stadtbezirk umfasst und aus drei Gemeindebezirken mit je einem Pfarrer besteht. Auch dieser Prozess ist Teil des Schwundes der beiden großen Kirchen in Deutschland. Das heißt aber nichts über die Lebendigkeit des gemeindlichen Lebens und des interkulturellen Austausches. So hat der „Treff Thomas“ im Februar 2024 sich mit dem wiederentdeckten Zeitdokument „Das deutsch-jüdische Liederbuch von 1912“ befasst.
Die Kirche Chung-Ang, deren Namen mit „Die Kirche, die den Glauben überliefert“ übersetzt wird, ist einen koranische Gründung. Sie wird als evangelische Freikirche bezeichnet. Sie stellt sich selbst so dar: „Die koreanische Kirchengemeinde Mainz Chung-Ang e.V. wurde 1986 gegründet und ist mit ca. 150 Mitgliedern aus drei Generationen, die größte koreanische Kirchengemeinde in Mainz. Die familiäre Atmosphäre und die herzliche Gastfreundschaft zeichnen die großartige Gemeinde aus.“ In der Vergangenheit haben gemeinsame Gottesdienste mit der Thomaskirchengemeinde stattgefunden.
Die Berliner Siedlung ist durchaus typisch für das religiöse Leben in Stadtteilen. Doch auch die Konflikte der Religionsgemeinschaften werden sichtbar. So musste das Verwaltungsgericht Mainz im Jahr 2018 sich mit einer Klage der Kirche Chung-Ang gegen den Leiter der Beratungsstelle für Sekten- und Weltanschauungsfragen des Bistums Mainz (sog. "Sektenbeauftragter") befassen. Dieser hatte die Religionsgemeinschaft als „gefährliche christliche Sekte“ bezeichnet, die durch ihre gefälligen Aktionen junge Menschen in Konzerte lockte, die als „Türöffner“ für „Mind Lectures“ und indoktrinierende „Bewusstseinserziehung“ dienten. Die Klage wurde abgewiesen. Mit diesem Amt aber wirkt der Deutungsanspruchs der katholischen Kirche in die Gegenwart hinein.
Beispiel Mombach
Auch unter den ca. 14 000 Einwohnern von Mombach gibt es viele Eingewanderte. Die Stadtteilseite der Mainzer Homepage weist drei „Kirchen“ und vier „Religionsgemeinschaften“ aus. Diese Unterscheidung folgt der traditionellen Begrifflichkeit, die nur in dem Fall von einer „Kirche“ spricht, wenn es sich um eine „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ handelt. Als Kirchen existieren also in Mombach die katholische, die evangelische und die koptische Gemeinde. Die katholische Gemeinde hat im Rahmen des sogenannten Pastoralraums, zu dem sie gehört, einen Pfarrvikar bekommen, der aus Polen stammt. Es ist seit Jahrzehnten eine Besonderheit des Katholizismus, dass der einheimische Priestermangel durch Zuwanderung ausgeglichen wird. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die katholische Kirche nicht von den Fußballvereinen der oberen Ligen. Auch diese könnten ohne intensive Zuwanderung und Anwerbung nicht mit einer Mannschaft auflaufen.
Die Kirche der koptischen Gemeinde beeindruckt mit ihrer prächtigen Ausschmückung. Die Exotik der orthodoxen Religionskultur wird gleichzeitig als „fremd“ und „attraktiv“ wahrgenommen – eine typische und ambivalente Reaktion des Einheimischen.
Die Alevitische Gemeinde wurde 2007 gegründet und will Kultur, Glauben und Philosophie der alevitischen Bevölkerung in Mainz fördern. Der Verein will aber auch die sozialen Bedürfnisse der Menschen erfüllen. „Ziel ist es, dass die alevitische Bevölkerung ihre wahre Kultur und Identität bewahrt und sich dabei mit den anderen Völkern im Lande vereinigt. Der Verein ist an die Toleranz gebunden und fördert das Zusammenleben mit Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Kultur“.
Der Verein „Die Basis e.V.“ feiert Equippers-Gottesdienst in der Alten Waggonfabrik. Er ist Teil von Equippers Rhein-Main, einer Kirche für das Rhein-Main-Gebiet. „Wir sind überzeugt, Gott hat einen Plan für jeden Menschen und eine Zukunft, die größer ist als die Gegenwart. Gott will uns ganz persönlich begegnen“ – so lautet das programmatische Bekenntnis. Die Kirche ist Teil der weltweiten Equippers-Familie mit 39 Kirchen in 9 Ländern auf 6 Kontinenten. Sie wirbt in modernem Design und will offensichtlich junge Menschen ansprechen und begeistern.
Die Marokkanische Gemeinde Mainz ist ein eingetragener Verein zur Pflege und Förderung der marokkanischen Kultur. Sein Selbstverständnis drückt er folgendermaßen aus: „Der Verein fördert die Völkerverständigung, Bildung und Integration von Marokkanern in Deutschland sowie den kulturellen und sportlichen Austausch zwischen Marokko und Deutschland.“ Er will den Missbrauch des Vereins für politische Agitation verhindern und duldet keine „gotteslästerlichen Reden“ im Verein. Diese Gemeinde hebt auch ihre soziale Bedeutung für die Menschen aus Marokko und ihre Familien hervor. Sie unterstützt ausdrücklich deren Integrationsbemühungen und will einen Beitrag leisten zur Bekämpfung der Ursachen der erzwungenen Migration.
Die Chaldäisch-katholische Gemeinde in Mombach gehört zu den jüngeren katholischen Gemeinden in Mainz. Die chaldäisch-katholischen Christen stammen vorwiegend aus dem Irak, aber auch aus Syrien, dem Libanon und der Türkei. Viele Christen wurden vom „Islamischen Staat“ getötet, viele wurden vertrieben und flüchteten zunächst in die Nachbarländer, später in die ganze Welt. In der Pfarrkirche Herz Jesu in Mombach feiern die chaldäischen Christen aus dem Rhein-Main-Gebiet schon seit einigen Jahren ihren Gottesdienst. Pfarrer Isleiwa hat jetzt die Leitung der Gemeinde übernommen. Die Gemeinde ist ein typisches Beispiel dafür, wie durch Migration nicht nur die religionsbezogene Pluralität der Gesellschaft erweitert wird, sondern auch die einer großen Kirche. Denn der weltweite Katholizismus ist nur an der Oberfläche einheitlich.
In der Information des Bistums Mainz heißt es: „Die chaldäisch-katholische Kirche ist eine mit Rom unierte Ostkirche mit ostsyrischem Ritus. Sie bildet den katholischen Zweig der ‚Kirche des Ostens‘, das heißt des altkirchlichen Katholikats von Seleukia-Ktesiphon. Sie steht in voller Kirchengemeinschaft mit dem Papst in Rom. Ihr Oberhaupt ist der Patriarch von Babylon der Chaldäer, seit 1950 mit Sitz in Bagdad. Die Anhänger dieser Kirche haben ihre Wurzeln in Mesopotamien und gehören dem indigenen Volk der Assyrer an.
Der chaldäisch-katholischen Kirche gehörten 2013 etwa 537.000 Gläubige an. Von den rund 200 Priestern wirkten im Jahre 2013 etwa die Hälfte im Irak, die andere Hälfte in der Diaspora, darunter 20 in den USA. In Deutschland leben etwa 20 000 chaldäische Christen, die von wenigen Priestern, die verheiratet sind, betreut werden.“ Pfarrer Isleiwa wird gelegentlich von einem Priester aus Norwegen vertreten. Dieser Vorgang kennzeichnet, soweit es die „Versorgung“ mit hauptamtlichem Personal betrifft, ganz gut die Situation der Diaspora von vielen migrantischen Gemeinden.
Zurück zum Fußball
Da wird der Fußballgott angefleht und beschworen. Die Inszenierungen der Fans sind Liturgie vom Feinsten. Manche Clubs besitzen eine eigene Friedhofswiese, auf der die Asche der Mitglieder und Fans verstreut werden kann. Bei Schalke vermeldet die Homepage: „Das ‚Schalke FanFeld‘ ist eine Anlage, die sich wie ein blau-weißer Ziergarten harmonisch in die Umgebung einfügt. Gestaltung und Pflege sind über 25 Jahre hinweg sichergestellt. Angelegt ist das FanFeld in Form eines Stadions mit Reihen- und Urnengräbern. Darüber hinaus gibt es einladende Plätze zum ruhigen Verweilen und zum Niederlegen von Blumengaben.“ Beim Hamburger SV heißt es: „Der HSV-Friedhof liegt nur einen Steinwurf vom Volksparkstadion entfernt, hinter der Westtribüne, auf der anderen Straßenseite des Hellgrundwegs.“ Es geht darum, „seinem Verein nach dem Tod ganz nah zu sein.“ Von der Babykleidung in Vereinsfarben bis zum eigenen Friedhof ist die religiöse Identität des Vereinsgläubigen gesichert.
Deshalb sind die religionsbezogenen Gesten der eingewanderten Fußballspieler nur oberflächlich gesehen auffällig. Die unterschiedlichen Traditionen der Herkunft können in neuen Kulturen und ebenso neuen Formen von Religiösität nebeneinander und miteinander auskommen. Die Einwanderung neuer Religionen ist dort möglich, wo Pluralität gilt. Sie verbindet sich mit der Vielfalt religiöser Selbstverständnisse und führt zu einem friedlich-konfliktreichen Nebeneinander und Miteinander.